Vintschger Wörterbuch
Wer
spricht heute noch vom „gabigen Schlund“, „parläxt“ mit seinem Nachbarn,
pflückt „Schrniggelen“ oder weiß, wo die „Gletschertåpper“ wohnen? Dialektale
Ausdrücke sind zunehmend vom Aussterben bedroht und was heute nicht
aufgeschrieben wird, ist morgen vielleicht schon vergessen. Wer alte, kaum mehr
gebräuchliche oder schon fast in Vergessenheit geratene Vinschger Ausdrücke,
vor allem aber Redewendungen und Sprichwörter kennt, kann sie per E-Mail hier
deponieren. Danke! Die Kolumne „Ausdrücke aus dem Vinschgau“ erscheint seit
2009 zweiwöchentlich in der Zeitschrift „Der
Vinschger“, mit dem 100. Ausdruck im November 2013 wird die Serie
abgeschlossen. Alle Beiträge gibt es auf dieser Seite oder alphabetisch
sortiert und bearbeitet hier.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (100)
„sui“
Für die allermeisten von uns ist der Dialekt
die eigentliche Muttersprache und für diese gelten einige Besonderheiten: Wir
erlernen sie in den ersten Lebensjahren von der Mutter bzw. den Eltern ganz
automatisch ohne formalen Unterricht und so prägt sie sich mit ihren Lauten, Strukturen
und Wörtern tief in uns ein. Es ist aus diesem Grund auch ganz normal, wenn ein
Dialektsprecher nicht weiß, warum er ein bestimmtes Wort verwendet, warum
gerade in diesem Kontext oder was es ursprünglich bedeutete. Hier kommt die
Sprachkolumne „Ausdrücke aus dem Vinschgau“ ins Spiel. der Vinschger hatte
bereits mit der Serie „Eindrücke aus dem Vinschgau“ das Tal mit all seinen
Facetten optisch in Szene gesetzt, die „Ausdrücke“ sollten einen Blick auf das
Sprachliche werfen. Beileibe keine einfache Angelegenheit, wenn man bedenkt,
dass die Distanz zwischen demReschenpass und der Töll nicht nur in Kilometern
eine beachtliche ist und die Grenze bei Eyrs eher dem Ohr als dem Auge
zugänglich ist.
Die Themen, mit denen sich die Kolumne
beschäftigt hat, sind vielfältig, aber es gibt drei Bereiche, die in besonderer
Weise berücksichtigt wurden, weil sie sehr schön belegen, worüber sich der
Dialektsprecher sehr häufig äußert und was im Mittelpunkt des menschlichen
Interesses steht: Einerseits der gesamte Bereich rund um lokales Brauchtum und
Traditionen (z. B. Säalamårkt, Klaubauf, Eïslheïbm,
Schaibaschloogsunnta,Faschaangält, Guldanåmp, Larmschtång), dann der
kulinarische Bereich, also Essen und Trinken (z. B. Schnäamilch, Piaschtturt,
Tirggariibl,Fochaz, Gåffrawåsser, Paalapiiragräascht, girschtas Prout,
Fätzener, Luttwärga, Pazlung, Zullawåsser) und schließlich durften auch die
existentiellen Themen Gesundheit, Krankheit und Tod nicht zu kurz kommen (z. B.
Fraithouf, Ziigngleggl, Maarn, Gäawåadl, Laitpitten, Särber, Wurmäntnschmålz).
Einige der vorgestellten dialektalen
Ausdrücke haben sich auch mit aktuellen Anlässen verbinden lassen. Weihnachten,
Aschermittwoch, die Karwoche oder Ostern waren beliebte Gelegenheiten, doch
auch Profaneres fand den Weg in die Beiträge, sommerliche Wärme, Glühwein, die
Apfelernte, für den heutigen Beitrag wäre es mit Sicherheit Allerheiligen oder
ein kleiner Seitenhieb auf die vor kurzem abgehaltenen Landtagswahlen gewesen.
Jeder vierte Beitrag war einem erfundenen
Vinschger Ehepaar und seiner Familie gewidmet, dem Håns-Sepp und seiner Frau
Mena. „Die Vinschger Saga“ hatte einen besonderen Auftrag. Während in den
regulären Beiträgen dialektale Ausdrücke in Bedeutung und Herkunft vorgestellt,
erklärt und immer wieder auch in Verbindung mit aktuellen Themen präsentiert
wurden, waren die kleinen Geschichten aus Håns-Sepps und Menas Leben dazu da,
um Wörter und Wendungen ohne theoretisches Drumherum zu verwenden. So wurden
beispielsweise zahlreiche Pflanzen- und Tiernamen genauso eingeflochten wie die
Übernamen für Bewohner bestimmter Dörfer (wie zum Beispiel die „Oubergrauner
Panklhucker“), Auszählreime oder die ganze verbale Bandbreite, die dem
Dialektsprecher zur Verfügung steht, wenn jemand langsam arbeitet, stinkt,
betrunken ist oder schläft. Vor allem in den ersten Folgen wurde hier ein recht
rustikales Bild des Vinschgers gezeigt. Da wurde geschimpft, gejammert und
gemault und es fielen auch schon die einen oder anderen gröberen Ausdrücke.
Aber so ist das nun einmal. Der Dialekt kommt von Herzen – und da rumpelt es
schon ab und zu.
Vor einigen Wochen wurden die Leserinnen und
Leser dazu aufgefordert, jene Vinschger Dialektwörter einzusenden, die ihnen
besonders gut gefallen. Ich versuche nun drei von den eingesandten Ausdrücken
in eine Geschichte zu verpacken und führe Håns-Sepp und Mena ein letztes Mal
auf die Bühne: Neu war die Situation nicht. Håns-Sepp und Mena lagen sich in
den Haaren. Nach fast vierzig Ehejahren haben sich beide immer noch nicht an
den Dickschädel des anderen gewöhnt. Mena hatte beim Konsortium einen
„Gschpualamälter“ gekauft, da ihr der alte verbraucht schien. Håns-Sepp sah das
vollkommen anders. Nur weil man dem Kübel ansah, dass er häufig verwendet
wurde, war das noch lange kein Grund, einen neuen zu kaufen. Aber auch Menas
Hinweis, er wäre wirklich „wolfla“ gewesen, konnte seinen für Außenstehende oft
künstlich wirkenden Zorn nicht mindern. Mena hätte in all den gemeinsamen
Jahren verstehen müssen, dass es nichts nützt, mit Håns-Sepp zu reden, wenn er
sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er war schon ganz überdreht. Am besten,
so dachte sie, solle er „fa Teipe iber an Ruan auirännen“. Was soll man dazu
sagen? Sosain sui hålt!
4 Jahre, 100 Beiträge, 421 dialektale
Ausdrücke und Wendungen, über 20.000 Wörter – das ist die rein numerische
Bilanz der Dialektkolumne „Ausdrücke aus dem Vinschgau“, die mit diesem 100.
Beitrag abgeschlossen wird. Wenn die kurzen Texte das eine oder andere
Schmunzeln angeregt haben oder dadurch einige Dialektwörter wieder etwas stärker
ins Bewusstsein gerückt worden sind, dann stimmt die Bilanz insgesamt. Allen
Lesern ein „Dånkschäan“!
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (99)
„Kaiwärch“
Süd-Tirol ist nicht Italien. Schluderns ist
nicht Schlanders. Langtaufers ist nicht Indien. Oder doch? Den ersten
Wahlspruch finden wir immer wieder auf Aufklebern und Plakaten über das ganze
Land verteilt, der zweite ist eine Parodie auf den ersten und kursiert
regelmäßig im Internet, doch was hat es mit dem dritten auf sich? Im genannten
Tal, das heute auch als Tschunglai bekannt ist, hören wir noch ab und zu den
schönen, alten Dialektausdruck „Kaiwärch“. Gemeint ist damit ein
ungebührliches, oft sogar anzügliches Verhalten (besonders typisch in der
ermahnenden Wendung „Tiat et Kaiwärch traibm!“). Woher kommt aber der Ausdruck?
Einen Hinweis könnte uns nicht zum ersten Mal das Alemannische liefern. Dort
wird „gehei“ bzw. „kei“ für etwas Ärgerliches, Verdrießliches verwendet. Dieses
Wort lässt sich vom Mittel- und Althochdeutschen über das Griechische bis zur heiligen
indischen Sprache Sanskrit zurückverfolgen. So schnell kommt man vom „Toul“
nach Indien.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (98)
„Paalapiiragräascht“
Was haben die Türkische, die Augsburger und
die Herrenbirne, die Bon Chrétien d’Été und die Strassburgerin, die
Sommerapotheker-, Plutzer- und Zuckerbirne, die Woschitzke, Gracioli und Pira
Crustumia, die Püli-, Bunkerte, Pilli Palli, Katelen-, Malvasier- und
Pfundbirne gemeinsam? Aus allen diesen Birnen kann man typische Vinschger
Köstlichkeiten zaubern. Denn jede einzelne der erwähnten Bezeichnungen steht
für die Paalapiir. Damit ist unser heutiger Ausdruck weit mehr als ein bloßer
Begriff, er steht für ein Stück lokale Identität. Mitte des 18. Jahrhunderts
war die Paalapiir auf der Churburg bekannt, allerdings nicht unter ihrem
heutigen Namen, und noch hundert Jahre früher tauchte sie schon in Florenz auf.
Ursprünglich stammte sie aus dem vorderen Orient und kam wahrscheinlich über
den Balkan in unsere Breiten. Ein langer Weg in den Vinschgau. Ein Graciolifestival,
eine Woschitzkeparty oder ein Bunkertes Bankett in Glurns? Wohl kaum denkbar.
Namen sind mehr als austauschbare Buchstabenfolgen. Und ein Paalapiiragräascht
ist mehr als ein x-beliebiges Gericht mit Birnen. Mahlzeit!
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (97)
„Radonnt“
In Zeiten zunehmender Globalisierung kann das
Lokale schon einmal in Bedrängnis geraten. Das Ausbügeln von Unterschieden,
auch auf sprachlicher Ebene, hat vielfach wirtschaftliche Gründe. Wer erinnert
sich noch daran, dass der Schokoladeriegel Twix bei uns Raider hieß? Damit man
ihn überall auf der Welt als solchen erkennt (und kauft), hat man damals eine
groß angelegte Umbenennungskampagne gestartet. Ob hier der Verlust einer
Produktbezeichnung zu bedauern ist, sei dahingestellt – ganz anders wäre das,
wenn es sich um Dialektausdrücke handeln würde. Viele Mundartwörter kommen oft
in der einen oder anderen Variante in sehr vielen Tälern, Orten oder Gebieten
vor. Auf der anderen Seite gibt es Ausdrücke, die besonders typisch für eine
Gegend sind. Ein schönes Beispiel ist die Obervinschger Radonnt (mit
bündnerromanischen Wurzeln) oder auch Ommat. Es handelt sich dabei um die mit
Gras bewachsene Grenze eines Ackers. Der alternative Ausdruck „Ounawont“ ist in
veränderter Aussprache weit über Tirol und darüber hinaus verbreitet. Möge uns
demnach die Radonnt noch lange erhalten bleiben.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (96)
Die
Vinschger Saga (Vierundzwanzigster und letzter Teil)
JOHANN-JOSEF RUFINATSCHA & PHILOMENA
TSCHENETT stand auf dem Schild neben der Klingel, die ein Mann drückte. Mena
öffnete ihm die Tür, er sagte, er wolle zu Håns-Sepp. Der Gast war ein
Dialektforscher, der auf der Suche nach echten Vinschgern war, mit denen er
sprechen konnte. Er interessierte sich besonders für Ausdrücke, die nur mehr
wenig verwendet werden oder bei denen nicht geklärt war, woher sie kamen. Er
glaubte, durch die Gespräche deren Verwendungsweisen studieren zu können.
Einige der Wörter waren „Zågga“, „Ggingganii“, „Ragetzer“, „horzn“ und
„patschiiri“. Als der Forscher Håns-Sepp nach einem seiner Nachbarn fragte, den
er ebenfalls befragen wollte, antwortete dieser: „Deïr isch schun lång in
t’Onder Wält ouni.“ Was denn mit der Nachbarin auf der oberen Seite sei? „Dia
gip si kåa Argamäntl.“ Auch bei Håns-Sepps Bruder Särfin sah es nicht besser
aus: „Deïr isch wolta drraadert.“ Als Mena die Hilfe ihres Mannes brauchte und
Håns-Sepp gereizt reagierte – „Wås? I kimm amäarsch it fuuder.“ –
verabschiedete sich der Forscher. Manchmal muss man eben Fragen auch offen
lassen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (95)
„Tirggariibl“
Nudeln gelten als typisch italienisch, obwohl
man diese in China seit 4.000 Jahren kennt, und Pommes Frites, die man gerne
amerikanisch sein lässt, haben ihren Ursprung in Belgien. Von den
Haflingerpferden, die eigentlich Schludernser sind, ganz zu schweigen. Das sind
nur drei von vielen Beispielen, bei denen man über die Herkunft diskutieren
könnte. Verwendet man im Vinschgau den Ausdruck „Tirgg“ für Mais in einer von
zahlreichen Verbindungen wie „Tirggkolbm“, „Tirggameel“, „Tirggakourn“ oder
„Tirggamuas“, dann verweist man damit geographisch auf die Türkei. Man könnte
so vermuten, dass dies auch der Ursprung des beliebten Getreides sei. Damit
liegt man aber genauso falsch wie bei den frittierten Kartoffeln. Der Mais kam
zwar über die Türkei nach Österreich und damit nach Tirol, die eigentliche
Heimat ist allerdings Mexiko. Eine besondere Bedeutung besitzt der Mais im
oberen Vinschgau mit dem (aus dem alemannischen Raum stammenden) „Tirggariibl“,
in Wasser aufgekochtes und in Butterschmalz geröstetes Maismehl. Nudeln, Pommes
und Riibl – das ist Globalisierung auf
allen Ebenen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (94)
„Fäachn“
Es dürfte für niemanden neu sein, wenn ich
erwähne, dass in der Wirkung oft ein großer Unterschied besteht, je nachdem wie
(!) ich etwas von mir gebe. Man denke nur an das Beispiel „Freisetzung von
Arbeitskräften“, wenn man damit aber „Massenentlassungen“ meint. Auch im
Dialekt gibt es für eine Vielzahl von Fällen verschiedene Begriffe, einer davon
ist vielleicht neutral, der andere kann durchaus forscher oder grober sein. Da
der Sommer nun endlich den Weg in den Vinschgau gefunden hat, passt das Wort
„Sommersprosse“ gut zum Thema (wörtlich übrigens im Sinne von „aufsprießender
Hautfleck“). Im Vinschgau verwendet man dafür gerne den Ausdruck „Fäachn“, fast
ausschließlich in der Mehrzahl, da eine Sommersprosse selten alleine auftritt.
Der Ursprung des Wortes liegt im Althochdeutschen: „feh“ bedeutete damals
„bunt, verschieden, ungleich, mannigfaltig“. Man kann sich allerdings auch
etwas weniger gewählt ausdrücken und einem netten sommersprossigen, also
„fäachatn“ Gesicht verbal mit dem Begriff „Fluigaschiss“ nähern. Ein
Sommerflirt wird daraus höchstwahrscheinlich nicht werden.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (93)
„A
frretts Präatl ...“
Wir kennen die Situation alle. Zuerst wird
einmal gejammert, geschimpft oder protestiert. Nie und nimmer könne man
einverstanden sein und akzeptieren, was man zutiefst ablehnt. Dies gilt für den
durchschnittlichen Alltag ebenso wie z. B. für Wissenschaft oder Politik. Dass
es dann oft ganz anders kommt, sagt eine Menge über uns Menschen aus – im
positiven wie im negativen Sinne. So werden aus überzeugten Gegnern mitunter
glühende Verehrer, manchmal über die Zwischenstufe der Gleichgültigkeit,
manchmal aber auch ohne diese. Warum man seine Meinung so problemlos radikal
ändert, ist eine faszinierende Frage. Vielleicht ist es so zu verstehen, wie im
Falle des deutschen Politikers Konrad Adenauer, der auf eine plötzliche und für
manchen unverständliche Kehrtwendung sinngemäß geantwortet haben soll „Es kann
mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden.“ Noch
bemerkenswerter sind allerdings die sprachlichen Bilder, die wir zur
Beschreibung solcher Situationen verwenden. Der Dialektsprecher kennt (wie so
oft) ein besonders schönes: „A frretts Präatl håt a siaßes Rantl.“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (92)
Die
Vinschger Saga (Dreiundzwanzigster Teil)
Mena hat heute besonders viel Zeit. Sie holt
die Zeitung und liest sie mit großer Aufmerksamkeit. Von einem Mann aus Mexiko
wird berichtet, dessen Sprache so selten sei, dass es nur mehr zwei Menschen
gibt, die sie verstehen – er selbst und sein Nachbar. Leider seien die beiden
seit Jahren zerstritten und wechseln kein Wort mehr miteinander. Mena seufzt
und muss daran denken, dass es für Nachbarschaftsstreits vor ihrer Haustüre
genügend Beispiele gibt. Håns-Sepp und die beiden Nachbarinnen Seffa und Feefa
streiten schon seit Wochen. Wieder einmal. Und wieder einmal ohne triftigen
Grund. „Dia gib si koa Argamäntl!“, meint er mit Blick auf Seffa. Er würde
stets „fan Dräck dr Fetter sain“. Bereits einige Male kam es zu groben
Wortgefechten. „Du kånsch mr fimpferlan!“ war dabei noch das Harmloseste. Mena
versucht ihn zu beruhigen. Vergeblich. Wenn Håns-Sepp in Fahrt ist, hält ihn
nichts und mault sogar, Seffa hätte „a Gsicht wi'a oigrännte Källerschtiag“.
Aber noch schlimmer als Seffa kommt Feefa davon: „Frmiig za deer isch di ånder
joo nu Hailitoog!“ Sprache verbindet, Sprache trennt.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (91)
„vikanz“
Was haben das Papstamt, die SEL und das
Südtiroler Schulwesen gemeinsam? Zunächst war und ist es bis jetzt für alle
drei ein sehr wechselvolles Jahr. Papst Benedikt XVI. hat überraschenderweise
im Februar seinen Rücktritt erklärt. Es war das erste Mal seit über 700 Jahren,
dass sich ein Nachfolger Petri zu diesem Schritt entschlossen hat. Die Zeit
zwischen seiner Abdankung und der Wahl des neuen Papstes nennt sich
Sedisvakanz. Die seit langem skandalgeschüttelte Landesenergiegesellschaft SEL
kam zu einem neuen Generaldirektor und verlor diesen wenige Monate danach
ebenso skandalbegleitet. Der Posten war nun wieder vakant. Und viele Schulen
haben heuer erste negative und positive Erfahrungen mit der 5-Tage-Woche gemacht.
Immerhin gab es einen zusätzlichen schulfreien Tag für die Schüler. Übrigens
(um endlich zum Dialekt zu kommen): Für „schulfrei“ gibt es im oberen Vinschgau
einen schönen alten Ausdruck: „vikanz“. Er hat – wie Vakanz und vakant – seine
Wurzeln im lateinischen „vacuus“ mit der Bedeutung „leer“. So leer wie manch
kontraproduktives Geschwätz um eine 36. Schulwoche.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (90)
„Kalfåkter“
Dialekte sind wunderbar. Wer sich damit
beschäftigt – nicht nur mit der eigenen Mundart, die unsere tatsächliche
Muttersprache ist –, lernt immer wieder Neues. Es ist ein Blick in die Zukunft
unserer Sprache, wenn man feststellt, welche Ausdrücke leider nicht mehr
verwendet und zum Teil auch gar nicht mehr verstanden werden. Gleichzeitig ist
es immer auch ein Rückblick auf unsere Vergangenheit. Walther von der
Vogelweide ist allen als bedeutender Lyriker des Mittelalters bekannt. In
vielen dialektalen Ausdrücken überlebt seine Sprache, das Mittelhochdeutsche,
das in so vielen Dialektwörtern zu finden ist. Einen ganz anderen Fall haben
wir mit dem Vinschger Ausdruck „Kalfåkter“ (oder „Kolfåkter“). Durch ihn wird
ein Taugenichts, auch ein schmutziger Mensch bezeichnet, mitunter ein
ungezogenes Kind. Der Ursprung des Wortes liegt hier im Lateinischen: „calefactor“
hat die Bedeutung „Heizer“. Kaum bekannt sein dürfte, dass es für Hilfskräfte
das hochsprachliche „Kalfaktor“ gibt. Dieser Ausdruck wird bei uns in der
Schriftsprache nicht verwendet – im Dialekt hoffentlich noch lange.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (89)
„kåntrawaltsch“
Heute, am 8. Mai, vor genau 68 Jahren endete
der Zweite Weltkrieg in Europa. Es war der blutigste, brutalste und
menschenverachtendste Krieg, den die Erde je erlebt hat. Etwa 55 Millionen
Todesopfer galt es zu betrauern, darunter Millionen, die einfach anders waren,
die nicht dazugehören sollten. Der Mensch hatte schon immer Schwierigkeiten mit
dem Fremden und dem Anderen. Das zeigt sich selbstverständlich auch in der
Sprache, vielleicht sogar vor allem in der Sprache. Auch wir leben in einem
Land, in dem es viele „Andere“ gibt, zum Beispiel die „Waltschn“. An und für
sich ist der Ausdruck (von ahd. walhisc) neutral, bezeichnet er doch lediglich
die romanische, in diesem Fall italienische Bevölkerung. Der negative
Beigeschmack, den das Wort im Laufe der Zeit bekommen hat, zeigt sich gleich in
mehreren Zusammensetzungen: Wenn jemand durch und durch italienisch ist, dann
ist er „schtockwaltsch“ (was nicht als Kompliment gemeint ist); versteht man
sein Gerede kaum, dann spricht er „krautwaltsch“ und wenn etwas nicht mit
rechten Dingen zugeht, dann ist es sogar „kåntrawaltsch“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (88)
Die
Vinschger Saga (Zweiundzwanzigster Teil)
„Es gäat di Reïd ...“ Wenn man diese Worte im
oberen Vinschgau hört, kann man davon ausgehen, dass sich Håns-Sepp lautstark
über die lokale Politik und deren Vertreter auslässt. Zu reden gibt es schon
seit Monaten mehr als genug und vor allem mehr als vielen lieb ist. Wenn es um
den SEL-Skandal geht – so Håns-Sepp –, würden mehrere Beteiligte „an Tschåch
hoobm“ und erntet breite Zustimmung auf den Gesichtern seiner Zuhörer. Über
einige Politiker lässt er sich sogar zu Urteilen wie „Deer håt a Gosch ass wi’a
Schaaraschlaifer“ oder „Deer håt an schtuurn Grint“ hinreißen. Jetzt kommt auch
noch die Basiswahl für das höchste Amt im Lande hinzu. Das Volk zu fragen sei
gerade modern, „an ålts Gfaar“ sei das bestimmt nicht, ist er sich sicher. Dass
nun auch noch der Vinschger Kandidat wegen eines „Ggaiggali“ plötzlich abhanden
gekommen sei, schmerzt ihn besonders. Mena mischt sich ein und meint, dass
ohnehin eine der Frauen an der Reihe wäre. Diese seien eindeutig besser für die
bevorstehenden Aufgaben geeignet, da sie diplomatischer seien. Håns-Sepp
lapidar: „Deïs isch miar it wissalat!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (87)
„schimpflan“
Es kommt vor, dass etwas anders aussieht, als
es tatsächlich ist – und dies gilt nicht nur für Lasagne, die Pferdefleisch
enthält. Auch im sprachlichen Bereich gibt es (auf den ersten Blick) solche
Fälle. Ein Beispiel ist das Vinschger Wort „schimpflan“. Würde man nicht
wissen, dass damit „spielen“ gemeint ist, eine für Kinder sehr positive
Tätigkeit, man würde eher in Richtung „tadeln“ oder „maßregeln“ tippen. In der
Tat hat „schimph“ im Mittelhochdeutschen die Bedeutung „Spiel“ und „Scherz“. So
heißt es „ein vrouwe sol niht vrevelîch schimphen“, also „eine Frau soll nicht
anzüglich scherzen“. Woher aber kommt die negative Bedeutung? Das mhd.
„schimph“ wurde nicht nur für Kurzweil allgemein verwendet, sondern auch für
das ritterliche Kampfspiel. Bei dieser Art von Zeitvertreib wird aus Spaß
schnell Ernst. Siegt hierbei ein Teilnehmer über den anderen, so kann daraus
leicht Spott oder Verhöhnung werden. Und dann wird geschimpft! Schöner ist es,
wenn Kinder heute, so es endlich wärmer wird, vor dem Haus im Freien spielen
können und es heißt „Dr Hias isch affn Weïg oi schimpflan.“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (86)
„girschtas
Prout“
Es gibt eine Zeitschrift, die von Lesern (und
Nicht-Lesern!) mitunter als „vegetarisches Kampfblatt“ bezeichnet wird. Sie
setzt sich in fast jeder Ausgabe mit alternativen Nahrungsmitteln auseinander.
Fleisch zum Beispiel sollte man gar nicht essen, dafür aber Tofu-Würste und
Soja-Schnitzel; Zucker ist ohnehin das Gift par excellence, hier gibt es
Abhilfen aus Agaven oder Stevia und auch beim Mehl könnte man seinem Körper
Besseres tun, als ihn mit weißem Weizenmehl zu belasten. Getreidesorten gibt es
zuhauf und dementsprechend sind die Alternativen zum Weizen zahlreich: Roggen,
Hafer, Buchweizen, Mais uvm. Aus Gerstenmehl beispielsweise ist es durch den
sehr geringen Anteil an Gluten sehr schwierig, Brot zu backen. Das hält einige
Überzeugte aber nicht davon ab, es in allen möglichen Varianten zu versuchen.
Dass man damit auch im Vinschgau Erfahrung hat, bezeugen Ausdrücke wie
„girschtas Meïl“ und „girschtas Prout“. Gemischt mit anderen Mehlsorten
verleiht die Gerste dem Brot einen erdigen Geschmack. Ohne Erde kein Getreide
und kein Mehl ... aber muss es gleich erdiges Brot sein?
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (85)
„Särber“
Der Frühling naht langsam, aber stetig. Die
Temperaturen steigen, die Natur blüht auf und viele Menschen ebenfalls. Das
Leben ist zurück. So könnte man meinen. Sterbestatistiken aus vergangenen
Jahrhunderten zeigen aber, dass gerade im März und April – verglichen mit dem
restlichen Jahr – besonders viele Menschen sterben. Eher würde man dies für die
kalten Wintermonate vermuten. Eine mögliche Erklärung dafür ist die Umstellung
des Hormonhaushalts, die den Körper belastet (und auch für die
Frühjahrsmüdigkeit verantwortlich ist). Als eine Todesursache, die früher sehr
häufig zu finden war, gilt die Lungenschwindsucht. Eine von vielen
Bezeichnungen dafür ist „Serbe“. Im Vinschgau kennt man den Ausdruck „Särber“
für einen kränklichen Menschen, für jemanden, der zwischen Tod und Leben
schwebt. Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm gibt uns Auskunft über die Herkunft
des Begriffes: „serben“ steht für „erschlaffen, ermatten“. Dass die Variante
„serbeln“ heute noch in der Schweiz verwendet wird, zeigt einmal mehr die
sprachliche Verbundenheit zwischen der Eidgenossenschaft und dem Vinschgau.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (84)
Die
Vinschger Saga (Einundzwanzigster Teil)
Die Enkel von Håns-Sepps und Menas Nachbarin
Seffa wollten heute vorbeikommen, um mit den beiden über die scheinbar guten
alten Zeiten zu sprechen. Eine Gelegenheit, die sich vor allem Håns-Sepp
natürlich nicht entgehen lässt und sofort damit beginnt. „Gschloufn houbmr
affan långan Schtråasåck. Und ålla Toug houbmr dia gmiaßt aufrouglan, wailzi
sou hert gweïsn sain.“ Für Seffas Enkel, die Wohlfühlmatratzen mit
Schaumstoffschichten gewohnt sind, ist das unvorstellbar. Sie wollen wissen,
wie groß Håns-Sepps Familie war. „Gweïsn saimer insra älf Kinder, seggs Buabm
und fünf Maadlan, dånn Mamma, Tatta, dr Plawänner Neïna und di Naandl.“ Auch
über die Essgewohnheiten gibt er Auskunft. „Inzer Tant håt ållm Kuttlan kocht,
oubr mit dr Naandl hommar aa Gruipakneïdl grichtat. Oudr a guata leïne
Prännzupp mit fiil Schmålz.“ Nun schaltet sich Mena ein und erzählt, dass sie
auch als Kinder immer mit anpacken mussten. „Raar schträng woors. Årbatn houbmr
gmiaßt und oft wourmr pråataschilli.“ Vor allem ihre Mutter Geni wollte alles
schnellstens erledigt haben. So hieß es bei ihr stets „Tiss-tass!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (83)
„Larmschtång“
Manchmal steckt der Teufel im Detail. Als
Larmschtång bezeichnet man eine mit Stroh umwickelte Holzstange, die beim
Scheibenschlagen verbrannt wird. Aber der kulturelle Reichtum einer Gegend
zeigt sich eben auch dadurch, dass jeder Ort seine Eigenheiten pflegt und im
Detail Identifikation findet. In Mals zum Beispiel ist die Larmschtång in einer
einfachen, ursprünglichen Form ohne Querbalken zu finden. Wandert man in
Richtung Lichtenberg, so erhält sie immer mehr die Form eines Kreuzes mit
seitlichen Stangen. In Prad gibt es sie mit Querstange und einem Dreieck, das
mit der Spitze nach unten liegt, worin der eine oder andere sogar eine
männliche Rune erkennen möchte. Sie brennt zuerst, ihr folgen die Holepfann und
eine Feuerrad. Im schon erwähnten Lichtenberg besteht sie aus einem hängenden
Trapez, das analog als weibliche Rune aufgefasst werden kann. Detail hin,
Detail her. Man ist sich immerhin einig, dass es sich dabei um uralte
Kultbräuche handelt: Die Feuer, begleitet von Geschrei und Lärm, dienten dazu,
Geister und Dämonen zu verscheuchen. Womit wir wieder beim Teufel wären.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (82)
„Schlångate
Assn“
Südtirols Vorzeigeliterat Norbert C. Kaser
schreibt in seinem Stadtstich zu Glurns, dass „maenner kartenspielen &
geheimzeichen auf ein S malen“. Mit dem in den Text eingefügten S-Zeichen
spielt er auf ein im Vinschgau gern gespieltes Kartenspiel an: „Schlångate
Assn“. Die Spielkarten – das Gebetbuch des Teufels, wie man sie früher nannte –
sind im 14. Jahrhundert entstanden, wo genau, darüber ist man sich noch nicht
einig. Immerhin haben sie sich (weil immer wieder verboten) rasend schnell
verbreitet und sind heute genau so beliebt wie vor Jahrhunderten. Gespielt wird
im Vinschgau meist mit den Salzburger Karten, die in Salzburg selbst weder dem
Namen noch der Gestaltung nach bekannt sind. Manchmal lässt jedoch die
Bandbreite der Zeitvertreibe zu wünschen übrig, da viele Kartenspiele vom Watten
„geschlagen“ werden. Der Name scheint hier Programm zu sein, denn „Watten“
kommt vom italienischen „battere“ für „schlagen“. Nach wie vor beliebt sind im
Vinschgau aber „Schiabate Ass“ und „Såckn“. Am schönsten ist es immer, wenn es
heißt: „Måchmr an Schiaber?“ oder „Täamer Schuubern?“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (81)
„Stecher“
In dieser Folge behandeln wir nicht Vinschger
Begriffe und Wendungen, sondern einen bekannten Familiennamen. Familiennamen
lassen sich in der Regel auf Berufsbezeichnungen, Flurnamen, die Herkunftsorte
der ersten Träger, auf Charaktereigenschaften, das Aussehen oder auf die
Vornamen von Vater oder Mutter zurückführen. Der Vinschgau ist im letzten Fall
recht ergiebig. Manchmal ist der Ursprung augenscheinlich, wie bei den Vornamen
Bernhard und Daniel, die unverändert als Familiennamen übernommen wurden. Bei
anderen hat sich die äußere Form im Laufe der Zeit mehr oder weniger gewandelt.
Der Familienname Blaas geht auf den Namen Blasius zurück, Köllemann auf den
heute kaum mehr vergebenen Namen Koloman, Fliri bezieht sich auf den in Matsch
verehrten Hl. Florinus, Plagg auf den Namen Placidus und Tschenett auf
Johannes. P. Thomas Wieser vom Kloster Marienberg hat 1917 vermutet, dass auch
der Name Stecher aus einem Vornamen entstanden sei, in diesem Fall Eustachius.
Damit dürfte er aber falsch liegen. Der Urahne aller Stecher war wahrscheinlich
ein Fechter, Saustecher oder Kastrierer.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (80)
Die
Vinschger Saga (Zwanzigster Teil)
Weihnachten steht bald vor der Tür. Auch im
Haus von Håns-Sepp und Mena ist es einer der Höhepunkte des Jahres. Zum
traditionellen gemeinsamen Essen werden Sohn Hias und Tochter Touna erwartet.
Hias kommt dieses Jahr alleine, Touna bringt ihre beiden Töchter und ihren Mann
Guschtl mit. Nach der Hauptspeise gibt es wie jedes Jahr noch eine Vinschger
Schnäamilch, worauf sich alle besonders freuen. Das Rezept im Detail hält Mena
geheim, denn wie es sich für eine typische Vinschger Familie gehört, ist man
nur selbst imstande, die beste Schnäamilch im Tale zuzubereiten. Während die
Köstlichkeit verspeist wird – so ist es ebenfalls Tradition –, erzählt
Håns-Sepp wie er seine Mena vor mittlerweile 29 Jahren kennengelernt hat. Menas
mittlerweile verstorbene Mutter Geni hatte nach Sonnenuntergang (natürlich mit
Hintergedanken) eine Schnäamilch auf das Fenstersims gestellt, damit sie nicht
verdirbt. Der reiche Bauernsohn Håns-Sepp hatte dies schon länger beobachtet
und sich immer wieder in die Nähe des Hauses geschlichen. Dabei hatte er nicht
nur Kulinarisches im Sinn. Und Geni ebenso wenig.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (79)
„Knapperle“
Es ist für mich eines der schönsten Vinschger
Wörter und in der Wendung „a Knapperle täan“ auch eines der wohltuendsten – und
nötigsten. Hektik treffen wir an allen Orten; Geschäfte, die nicht durchgehend
geöffnet haben, verlieren Kunden und Vieles, das in der Vergangenheit in den
Medien verbreitet wurde, deutet in eine Richtung, die überhaupt keine freien
Geschäftstage mehr akzeptiert. Rubel, Euro und Dollar müssen rollen. Auf der
anderen Seite haben wir „neudeutsche“ Wörter wie „Wellness“ und „Burn-out“ in
unseren Wortschatz aufgenommen, weil wir mit dem ersten das zweite verhindern
wollen. Dabei wird seit kurzem immer öfter Burn-out bei Kindern festgestellt,
weil – man lese und schüttle den Kopf – ihr Terminkalender zu voll sei und sie
zu wenig schlafen. Was machen wir mit unserer Zeit? Die Chinesen haben das
Recht auf einen Mittagsschlaf sogar in ihrer Verfassung verankert. Und an der
Universität Klagenfurt wurde 1990 ein „Verein zur Verzögerung der Zeit“
gegründet. Manchmal geht man mit der Zeit am besten um, wenn man einem
Knapperle erlaubt, einfach ein Knapperle zu sein.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (78)
„Maarn“
Was haben englische Spukschlösser mit dem
Vinschgau zu tun? Zunächst einmal gar nichts. Aber ein Schloss, das etwas
gelten will, hält sich mindestens einen Geist. So sollen im Hampton Court
Palace in der Nähe von London sowohl die dritte als auch die fünfte Ehefrau von
König Heinrich VIII. umherspuken. Er selbst wird sich wohl aus dem Staub
gemacht haben, um das Gezanke nicht miterleben zu müssen. Im Althochdeutschen
gibt es das Verb „maren“ (verkünden, verbreiten), das wir heute noch im Wort
Mär für „Erzählung“ oder „Nachricht“ erkennen. Im Dialekt verwendet man
„maarn“, wenn sich Tote bei den Hinterbliebenen melden oder sich mit Geräuschen
oder geisterhaften Erscheinungen bemerkbar machen. Spuk hin oder her. Es gibt
dafür auch natürliche Erklärungen, zum Beispiel dass Zugluft sehr tiefe
Schwingungen hervorruft, die Angstzustände auslösen und Stimmen in den Kopf
zaubern, die nicht existieren. Wenn aber zügige Luft in den langen Gängen
englischer Schlösser Halluzinationen hervorrufen kann, dann lässt das den
Oberwind in Bezug auf das Maarn in einem ganz neuen Licht erscheinen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (77)
„Russlånt“
Als der vielseitige und stets originelle
Tiroler Schriftsteller Felix Mitterer 1990 seine dreiteilige „Piefke-Saga“ ins
Fernsehen brachte, sorgte er nicht nur in Deutschland und unter Touristen für
einen Aufschrei. Er hatte wohl den Nerv der Zeit und den wunden Punkt der
Tiroler selbst getroffen. Auch wenn sich die Serie auf Nordtirol bezog, konnten
wir uns im Süden nicht verstecken. Nun liest und hört man schon seit einigen
Jahren, dass Mitterer an einer Fortsetzung schreibt, doch gilt sein Interesse
dieses Mal nicht bundesdeutschen Besserwissern, sondern finanzstarken Russen.
Wann die von vielen heiß ersehnte "Russen-Saga" endlich ausgestrahlt
wird, weiß man noch nicht. Doch Russlånt ist viel näher als man glaubt. Ein
historischer Ortsteil am Westeingang von Mals mit zwei romanischen Kirchen
trägt ebenfalls diesen Namen. Ob das kalt-windige Klima oder einquartierte
russische Kriegsgefangene Grund für die Bezeichnung sind, sei dahingestellt. Eine
Erkenntnis scheint jedoch sicher zu sein. Denn wie heißt es mit zwinkerndem
Auge so schön: „Lenin, Stalin, Polin – ållz Russn!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (76)
Die
Vinschger Saga (Neunzehnter Teil)
„Dia poltschata Pourschtseïgaz!“ Håns-Sepp
ist wütend und das hat nichts Gutes zu bedeuten. Der Grund ist ein
naheliegender. Auch der obere Vinschgau wird von den Sparmaßnahmen und neuen
Steuern, die derzeit alle Zeitungen füllen, nicht verschont. „Mit deïn håt ma
lai Kweschtioun!“ Wen er meint, ist nicht ganz klar. Die Nachbarn, die gerade
zu Besuch sind, bilden ein willkommenes Publikum für Håns-Sepps Schimpftiraden,
kommen aber selbst kaum zu Wort. „Timmerer Huuderer isch pa dr Sintfluat kåaner
drsoffn.“ Sein ganzes Leben lang hätte er als Bauer hart gearbeitet, hätte ein
Stück Tiroler Tradition bewahrt. „Do isch is Schåntluader drin.“ Man müsste „an
Zinouber måchn“, um endlich auf die ungerechten Zustände zu verweisen. Er würde
am liebsten Berge versetzen, im wahrsten Sinne des italienischen Wortes. „Di grintla
Woorat“ würden die Menschen schon ertragen. Jeder Versuch von Mena, den Martl,
einen ansonsten schlagfertigen Nachbarn dazu zu bringen, auch etwas zu sagen,
scheitert. Für Håns-Sepp ist dieser ohnehin kein ebenbürtiger
Diskussionspartner. „Deïr sågg it wist unt it hott!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (75)
„kaschtigaarn“
Auch wenn wir glauben, in (und mit) deutscher
Zunge zu sprechen, um es etwas pathetischer auszudrücken, so ist unsere Sprache
doch ein unendlich vielfältiges Mischmasch. Wer sich über das Schlamassel in
der italienischen Politik aufregt, spricht Jiddisch; wer an einem knappen
Bikini Gefallen findet, verwendet ein polynesisches Wort und diejenige, die nun
im Herbst ihren Bikini gegen einen warmen Schal tauscht, tut dies mit einem
persischen Begriff. Wieso sollte dies im Dialekt anders sein? Auch im Vinschgau
finden wir diese Vielfalt. Neben den bekannten Überbleibseln aus dem Alt- und
Mittelhochdeutschen sind das Lateinische („ålb“), Griechische („Pfinzta“),
Rätoromanische („Glatsch“), Alemannische („Gluuf“), Jenische („horzn“),
Französische („Paraplui“) und Italienische („Kapaari“) ergiebige Quellen. Das
schöne „kaschtigaarn“ mit den Bedeutungen „plagen“, „quälen“ oder „in die Enge
treiben“ lässt sich ebenfalls auf ein italienisches Wort zurückführen, in
diesem Fall „castigare“. Wenn also jemanden die Flöhe plagen, sagt man hier am
besten: „Di Fläach hooman schäan kaschtigaart!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (74)
„Zullawåsser“
Selbst in unserer fortschrittlichen Welt, in
der fast jedes Phänomen erklärt werden kann, gedeiht in engen Seitennischen
immer noch das Geheimnisvolle und Unglaubliche. Moderne Sagen, wie man sie oft
nennt, sind schon längst zum Allgemeingut geworden. Legt man zum Beispiel ein
Stück Fleisch in Cola, so wird immer wieder berichtet, löse sich dieses
vollständig auf – ein Beweis, wie schädlich das Gebräu sei. Tatsache ist, dass
sich mit der Zeit (wie ohnehin) das Aussehen verändert, mehr aber auch nicht.
Ein anderes Gerücht lautet, Spuma, das in Italien weit verbreitete Getränk,
werde aus faulen Äpfeln hergestellt. Die Wirklichkeit ist kaum gesünder:
Wasser, Zucker, Farb- und Aromastoffe, aber keine Äpfel. Um einiges
unappetitlicher ist aber die Herkunft von Speisewürze (vulgo Maggi): Der
Ausdruck "Zullawåsser" legt nahe, sie werde aus zermalmten und
ausgepressten Zulln, also Maikäfern, hergestellt. Das Wort "Zulln"
lässt sich auf das Welschtiroler „zorla“ zurückführen. Ob aber die ähnliche
Farbe und der Geruch von käfernzerknabberten Buchen Beweis genug für die Maggi-Herkunft
sind?
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (73)
„Ketter“
Der Ketter (Homo super-venostanus) ist im
oberen Vinschgau zwischen dem Långkraiz und Reschen heimisch und gedeiht dort
seit vielen Jahrhunderten. Sein Lebensraum ist geprägt von einem durch
Sedimentablagerungen entstandenen Schwemmkegel, der als größter der Alpen gilt,
und durch zwei Seen. Der Boden ist fruchtbar und wird von diesem vorwiegend
landwirtschaftlich genutzt. Der Ketter ist seit jeher von lebhaftem
Temperament, stattlichem Aussehen und mit einer außerordentlichen Portion
Traditionsbewusstsein ausgestattet. Zudem besitzt er ein originelles Verhältnis
zur Wahrheit. Besonders in früheren Zeiten ernährte er sich am Morgen in erster
Linie von Kaffee und Riibl. Er unterscheidet sich von den südlicher wohnenden
Unterarten des Homo venostanus unter anderem in der Verwendung des Wortes
"kett" (eigentlich "ghett") für das Partizip Perfekt von
"haben", woher sein Name rührt, was einen Austausch mit dem alemannischen
Sprachraum nahelegt. Wenn ein anderer Ketter
das Zeitliche segnet, kommentiert er das gerne mit Sätzen wie „Deïr håt
aa laimer Ermatai kett!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (72)
Die
Vinschger Saga (Achtzehnter Teil)
Hias war wieder zu Besuch. Wie sich
herausgestellt hat, war seine Beziehung zu Barbara, der Freundin mit dem Sohn
Yannick, erstaunlich stabil. Während Håns-Sepp sich erkundigte, wie es ihr bei
ihrer Arbeit ginge, kümmerte sich Mena erneut um Yannick – und darum, dass sich
sein Vinschger Wortschatz vergrößerte. Schließlich will man ja verstanden
werden. Im großen Naturlexikon, das schon seit jeher im Regal stand und in dem
schon Hias als Kind gerne blätterte, zeigte sie ihm, was die Natur zu bieten
hatte und vor allem wie sie dazu sagen würde: zum Beispiel Fåckapluamen,
Pfåffahousn und Guggupräatlan (was ihm besonders gut gefallen hat), aber auch
Häarapetschlpaam, Mounatraati und Tåatapluamen. Nicht fehlen durften Missroun,
Kraitla und Mougn (was für ihn bisher ein Organ im Körper war), Schwårzi Zaufn,
Muatergottesepfl und Schläachn. Bei der Pfrouslschtaud war allerdings seine
Aufnahmefähigkeit an die Grenzen gestoßen. Als Mena noch versuchte, ihm die
korrekte Aussprache beizubringen, merkte sie, dass sie ihn überforderte. Da
würde sie dann doch lieber „Arbaslan aufkaschtlan“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (71)
„Luggmilch“
Auf den Vinschger Berghöfen, auf denen man
weniger Korn angebaut und deshalb auch weniger Mehl zur Verfügung hatte,
entwickelte man alternative „Mehl“speisen. Man konzentrierte sich auf Milch und
Butter, denn sehr fett gekochte Gerichte vermochten auch in geringen Mengen zu
sättigen. Doch es mussten nicht immer Mehlspeisen sein. Beim Buttermachen wurde
der flüssige Rahm in den Butterkübel geschüttet. Nach einiger Zeit prüfte man
die Konsistenz des Rahms mit einem Löffel. Dazu gab man ihn in eine Schale –
und fügte etwas Zucker hinzu, was den Testvorgang sprichwörtlich versüßt hatte.
Das war die Luggmilch oder auch Luppmilch. Über eine solche Süßigkeit freuten
sich nicht nur Kinder. Wenn ein Pfarrer beim Almauftrieb die Almsegnung
vorgenommen hatte, bedankte man sich bei ihm unter anderem mit Luggmilch. Ob
das „Lugg“ auf das Luck des Butterkübels anspielt, an dem der Löffel hing, oder
ob mit „Lupp“ ein Gerinnungsmittel gemeint ist oder es noch andere Erklärungen
gibt, darüber scheiden sich die Geister. Fest steht: Mit der Luggmilch beginnen
erst die Vinschger Köstlichkeiten.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (70)
„Kuntrawant“
„Ihr
Toren, die Ihr im Koffer sucht! / Hier werdet Ihr nichts entdecken! / Die
Contrebande, die mit mir reist, / Die habe ich im Kopfe stecken.“ So
schreibt der deutsche Schriftsteller und Journalist Heinrich Heine 1844 in
seinem köstlich-satirischen Werk „Deutschland – Ein Wintermärchen“. Mit den
erwähnten Zeilen nimmt er die preußischen Zollkontrolleure aufs Korn, die ihn
filzen und Schmuggelware in seinem Gepäck suchen, dabei befindet sich das
Verbotene und wirklich Gefährliche – sein kritischer Geist – allein in seinem
Kopf. Mit dem Schmuggeln kennt man sich auch im Vinschgau bestens aus.
Allerdings wurde hier vor allem Profaneres über die Schweizer Grenze
geschleust, zum Beispiel Zigaretten, Kaffee und Saccharin. Ganze Generationen
haben damit ihren Lebensunterhalt verdient. Im Vinschgau ist dafür der Ausdruck
„Kuntrawant“ bekannt, der sich auf das italienische „contrabbando“ für
„Schmuggel“ zurückführen lässt. Schauen wir, wie es mit der Eurozone, den
Spritpreisen und der Meinungsfreiheit in Europa weitergeht. Vielleicht wird das
Schmuggeln wieder einmal richtig interessant.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (69)
„Pazlung“
Wissen Sie, womit sich Chasmologen
beschäftigen? Man glaubt es kaum – mit dem Gähnen. Scheint aber weder eine
besonders aufregende noch weit verbreitete Wissenschaft zu sein. Ebenso wenig
dürfte die Pemmatologie bekannt sein. Ihr Beschäftigungsfeld ist zwar genauso
alltäglich wie das Gähnen, aber wesentlich attraktiver und schmackhafter. Wer
den Titel dieses Beitrags gelesen hat, kann sich schon denken, was Pemmatologen
sind: Brotforscher. Ein Beispiel. Die Pazlung (auch: Parzlung, Pårzlung) ist im
ganzen Vinschgau bekannt. Es sind schmale, längliche oder auch hufeisenförmige
Brote. Der Name geht auf das rätoromanische "pez lonk" zurück, was
"langes Stück" bedeutet. Die Interessen des Brotforschers gehen
natürlich weit darüber hinaus, der Vinschgau ist diesbezüglich sehr ergiebig:
Fourschloogpaarlan, Paalapiiraprout, Schmålzschnuutn und Vieles mehr. Noch ein
Gedanke zum Schluss. In einer Millionenstadt wie Wien werden jedes Jahr etwa 2
Millionen kg Brot vernichtet. Vielleicht sollten zukünftige
Forschungsmilliarden der Morologie zugute kommen – der Lehre von der Dummheit.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (68)
Die
Vinschger Saga (Siebzehnter Teil)
Interessanter Besuch hat sich im Haus von
Håns-Sepp und Mena angekündigt. Xenia, die Tochter einer langjährigen und guten
Bekannten, sollte ein paar Dinge vorbeibringen. Natürlich ließ es sich Mena,
die für ihre Gastfreundschaft ohnehin in ganzen Tal bekannt ist, nicht nehmen
und hat sie gleich zum Mittagessen eingeladen. Xenia wohnte schon seit einigen
Jahren in der Fremde – in Meran – und so wurde sie nach dem Essen von Håns-Sepp
und Mena, die mit Leib, Seele und Mund Vinschger waren, in ein dialektales
Kreuzverhör genommen. So klagte die Schülerin über ihr Leid, nicht immer
verstanden zu werden. Überhaupt seien die Meraner oft vollkommen überfordert,
wenn sie ihr breites Vinschger Sprachrepertoire an den Mann oder die Frau
bringen will, sei es, weil die Ausdrücke nicht oder nicht mehr verstanden
werden. Wenn sie ein Knapperle machen möchte, dann beschwört sie schon ein
sprachlichen Problem herauf. Mit flåckn ist es ebenso. Fragt sie, ob jemand
einen hausgemachten Glaananinsutt oder eine Schuublwurscht möchte, dann blickt
sie in ratlose Gesichter. Und wenn sie ankündigt, dass sie am Wochenende nach
Russlånd fährt, dann fragt man nach, ob sie dafür nicht ein Visum bräuchte.
Gut, die Meraner sind lernfähig, das zeigt das Wort „Sportwåsser“. An die
Bozner ist vorerst aber noch nicht zu denken.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (67)
„Muiapfeif“
Der Mai ist jung, gerade einmal ein paar Tage
alt, deshalb ist es vielleicht nicht falsch über einen alten Brauch zu
sprechen, der auch im Vinschgau lange gepflegt wurde: das Schnitzen einer
Muiapfeif (auch: Moiapfeif). Ein Tourismusverein beklagt sich auf seiner
Internetseite, dass das Maipfeifchenschnitzen so gut wie ausgestorben sei, weil
sich die Jungen lieber an Computerspielen halten (oder nachschauen, ob es nun
tatsächlich zwei Seiten gibt, die sich mit dem Schnårfer beschäftigen) und die
Alten vielfach nicht mehr wissen, wie man eine solche Pfeife herstellt. Ganz so
schlimm wird es nicht sein. Zur Auffrischung der Kenntnisse hier eine
Anleitung: Man braucht einen frischen Weidentrieb, gut 10 cm lang und
daumendick. Im oberen Viertel wird eine Kerbe in die Rinde geschnitten. Am
unteren Drittel wird die Rinde einmal rings herum bis auf das Holz
eingeschnitten. Mit dem Messergriff wird nun der obere Teil der Rinde um den
Ast weichgeklopft, um sie vorsichtig abzudrehen. Wo die Kerbe beginnt, wird das
Mundstück abgesägt. Von dem abgeschnittenen Stück wird ein kleiner Span
heruntergeschnitten, um dann das Mundstück wieder in die Rindenhülse zu
schieben. Durch Verschieben des unteren Pfeifenteils beim Hineinblasen können
die verschiedenen Töne erzeugt werden. Geübte Musiker geben auf einer Muiapfeif
allerhand Melodien zum Besten. So könnte man vielleicht die in letzter Zeit ins
Gerede gekommene Hymne einfach instrumental spielen – und das Problem mit dem
Text hätte sich erledigt.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (66)
„Schnårfer“
Haben Sie schon einmal versucht, einen
x-beliebigen Begriff – zum Beispiel der erstbeste, der Ihnen einfällt, oder
auch eine besondere Kombination – in die Suchmaschine Google einzugeben, um zu
erfahren, was es im Internet dazu gibt? (Oder vielleicht sogar den eigenen
Namen, um zu sehen, ob man „digital“ existiert?) Vor Jahren war es ein
beliebter Zeitvertreib von Computernutzern, in einer Art Wettstreit
untereinander Suchbegriffe ausfindig zu machen, die nur einen einzigen Treffer
ergeben, da diese Aufgabe viel schwieriger ist, als sie für den Laien scheint.
Selbst sinnlose Zeichenketten wie „asdfghkl“ ergeben immerhin 31.600 Treffer
(Wer es nicht glaubt, möge es selbst nachprüfen.) Wenn Sie allerdings die
beiden Begriffe „Schnårfer“ und „Rucksack“ eingeben, dann erhalten Sie genau
ein einziges Ergebnis. Nicht mehr und nicht weniger. Eine reifliche Leistung.
Mit der Variante „Schnarfer“, die man u. a. in Taufers, Kastelbell und Nauders
verwendet, sind es immerhin grandiose sieben Einträge. Der Mundartforscher
Josef Schatz kennzeichnet „Schnårfer“ als typisch für den Vinschgau, wenn er
auch im einen oder anderen Ort außerhalb verstanden und gebraucht wird (z. B.
in Ridnaun). Die Herkunft des Ausdrucks ist leicht erklärt. Das althochdeutsche
Wort „snerfan“ kann mit „zusammenziehen“, „schnüren“ oder auch „runzelig
machen“ übersetzt werden und gab so dem Vinschger Rucksack seinen Namen. Da
dieser Beitrag auch auf der Internet-Seite des „Vinschger“ erscheint, wird es
nicht lange dauern und die beiden obengenannten Ausdrücke ergeben zwei Treffer
– eine kleine Form der dialektalen Aufklärungsarbeit.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (65)
„Piaschtturt“
Alles kommt wieder. Die erste Milch nach dem
Kalben wird Piascht genannt; in der Hochsprache gibt es dafür den Begriff
„Biestmilch“. Der Ausdruck, der nichts mit dem abwertenden Wort „Biest“ für
„Tier“ zu tun hat, besitzt eine uralte Geschichte. Er lässt sich über das
mittelhochdeutsche „biest“ und das althochdeutsche „biost“ wahrscheinlich sogar
auf den indogermanischen Wortstamm „bhus-ko“, mit dem unser Begriff „Busen“
verwandt ist, zurückführen. Wo immer der Ausdruck auch her kommt, früher hat
man aus dieser Milch vor allem in ländlich-bäuerlichen Haushalten einen
besonderen Kuchen gebacken – den Piaschtturt. Man versprach sich davon
gesundheitliche Vorteile, da diese Milch das neugeborene Tier in den ersten
Tagen optimal versorgt. Woran das liegt, weiß man mittlerweile natürlich genau,
denn die Biestmilch oder das Kolostrum, wie man sie auch nennt, ist reich an
Eiweiß, Enzymen, Vitaminen, Mineralien, Aminosäuren und Antikörpern. Dass man
heute wieder verstärkt darauf zurückgreift, ist nur eine Folge einer
Rückbesinnung, die man auf verschiedenen Ebenen beobachten kann. So ist diese
Milch für Spitzensportler wie zum Beispiel Triathleten interessant. Wenn man
das Internet durchforstet, wird man schnell fündig. Sie wird in oft sündteuren
kleinen Fläschchen oder auch in Form von Kapseln und Kautabletten angeboten.
Auch die Suche nach einem Rezept für einen Piaschtturt endet in einer
umfangreichen Sammlung verschiedenster Varianten. Wie schon gesagt: Alles kommt
wieder. Auch dieser Satz.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (64)
Die
Vinschger Saga (Sechzehnter Teil)
Es war ein gemütlicher Sonntagnachmittag.
Håns-Sepp und Mena saßen auf der Ofenbank und genossen die Ruhe. Plötzlich
öffnete sich die Haustür und ihr Sohn Hias kam durch die Tür. Die Freude war
natürlich groß. Dass er schon wieder eine neue Freundin hatte, wussten die
beiden bereits, auch wenn sie ihre neue Lebensabschnittsschwiegertochter-in-spe
bisher noch nicht kennen gelernt hatten. Das sollte sich an diesem Tag ändern.
Barbara war ihr Name und wurde von Håns-Sepp sogleich kritisch beäugt, vor
allem weil sie ihren fünfjährigen Sohn Yannick mitgebracht hatte. Um diesen
kümmerte sich aber Mena. Sie holte ein Tierbuch aus dem Kasten, setzte sich mit
ihm in eine Ecke und begann darin zu blättern. Sie zeigte ihm die einzelnen
Bilder und erklärte, wie man dazu im Vinschgau sagte. Darunter waren zahlreiche
Vögel und Yannick lernte so Namen wie zum Beispiel Krumpschnoobl,
Schpitziggeïngger, Wåldhåmmerer, Hossaschwäafl und Pätschlgraatsch. Er war ein
gelehriger Schüler. Aber auch kleinere Tiere waren in dem Buch zu finden, die
ihn noch weit mehr faszinierten, darunter Proocher, Haihupfer, Fätzoumåasn und
– wie sich herausstellte – seine neuen Lieblingsinsekten, die
Käarschtaschtinker. Während sich Håns-Sepp mit Hias und Barbara unterhielt,
plagte ihn eine äußerst lästige Mugg. Bevor er aber zourni wia a Pipper wurde,
holte er an Fluigatatscher und erledigte das Huarafii – womit Yannick einen
weiteren Tiernamen lernte.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (63)
„Griit“
In den 80er Jahren hat sich der ostfriesische
Komiker Otto Waalkes in einem seiner berühmten Sketches mit dem menschlichen
Körper beschäftigt, genauer mit dem, was sich „unterhalb der Gürtellinie“
befindet. Es war überraschenderweise „das männliche Knie“ – womit ihm damals
die Lacher des Publikums sicher waren. Was sich aber tatsächlich unmittelbar
unter der Gürtellinie befindet, dafür hat der Vinschger ein eigenes Wort: „di
Griit“. Die bekannten Autoren, die sich mit Dialekten auseinandersetzen,
definieren sie wie folgt: „Winkel, den die Oberschenkel bilden“ (Schatz),
„Becken“ (Kaserer), „Genitalbereich, wo die Hosenbeinstränge zusammenlaufen“
(Thöni), „die auseinandergespreizten, eine Gabel bildenden Schenkel“ (Schöpf),
„Schritt“ (Lanthaler) und „Grätsche“ (Gruber). Zurückzuführen ist der Ausdruck auf
das mittelhochdeutsche „griten“ für „Beine auseinanderspreizen“. Rund um dieses
Stammwort lässt sich eine ganze Wortfamilie finden. Zum Beispiel gibt es ein
passendes Verb dazu, es heißt „griitn“ und bedeutet „breitbeinig gehen“, „o-
oder x-beinig gehen“, „beschwerlich gehen“. Ebenso zu dieser Wortfamilie
gehören die Ausdrücke „Griiter“ für eine Person, die Schwierigkeiten beim Gehen
oder als „årmer Griiter“ ganz allgemein Probleme hat, die Verkleinerungsform
„Griiterle“ wird gerne für einen Knaben oder ein Kind verwendet und die
„Hintergriit“ ist ein netter, umschreibender Ausdruck für das Hinterteil. Und
am Ende haben wir sogar eine Wendung im Angebot. Der eingangs erwähnte Otto und
seine Späße sind mittlerweile auch in die Jahre gekommen und irgendwann wird es
dann heißen: „Deer drgriitats aa nimmer!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (62)
„Zoch und Pfott“
Spätmittelalter. Ländliche Gegend.
Historische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Anzahl der Geburten im
Dezember wesentlich geringer ist als während des restlichen Jahres. Der Grund
dafür lag darin, dass neun Monate zuvor die Fastenzeit begangen wurde und man
(zumindest auf dem Land) während dieser enthaltsamer als sonst gelebt hatte.
Verlassen wir aber das Mittelalter. Unsinniger Donnerstag. Prad am Stilfserjoch.
Das dort traditionell abgehaltene Zusslrennen gehört sicherlich zu den
wichtigsten und interessantesten Faschingsbräuchen im Vinschgau. Die männlichen
Prader verkleiden sich dabei als so genannte Zussl, sind dazu von Kopf bis Fuß
in weiße Kleider gehüllt, mit Maschen und Blumen geschmückt und tragen eine
mitunter schwere Kuhschelle oder Glocke. Im Laufe des Umzuges tauchen noch
viele andere Figuren auf, die wir hier gar nicht aufzählen wollen, und am Ende
schließlich ein Paar mit den Namen „Zoch und Pfott“. Die beiden Bezeichnungen
werden auch abseits der Fasnacht für „Mann“ und „Frau“ verwendet und haben
zumindest im Vinschgau nicht automatisch einen negativen Beigeschmack. Im
östlichen Teil des Landes zum Beispiel ist ein Zoch generell ein derber, grober
Mensch, ein bengelhafter Bursche. Woher die beiden Begriffe sprachgeschichtlich
stammen, darüber ist sich die einschlägige Literatur nicht einig. Manche
vermuten, dass „Zoch“ auf das slawische „socha“ für „Knüppel, Pfahl“
zurückgeht, das mittelhochdeutsche „zoche“ bedeutet „Knüttel, Prügel“, womit
natürlich ein bestimmtes männliches Körperteil gemeint war. Ähnliches gilt auch
für die „Pfott“. Womit sich der Kreis zum eingangs erwähnten Beispiel schließt.
Aber lassen wir solche Anzüglichkeiten – die Fastenzeit beginnt.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (61)
„Schlänggltoog“
Manchmal hat man das Gefühl, dass sich heute
Gedenk- und Aktionstage, unabhängig davon, ob sie nationaler oder
internationaler Natur sind, so häufen, dass überhaupt keine Zeit bleibt, um
genügend Luft dazwischen zu bekommen: Holocaust-Gedenktag, Europäischer
Datenschutztag, Tag zum Schutz des Lebens oder Welttag der Feuchtgebiete, um
nur einige der letzten Zeit zu nennen. Doch früher war es auch nicht viel
anders. Wenn wir uns in eine Zeit zurückversetzen, in der das bäuerliche und
das religiöse Leben noch eine dominante(re) Rolle in unserem Land gespielt
haben, so fällt es nicht schwer, einige Feiertage hintereinander zu reihen. Die
vergangene Woche zum Beispiel konnte mit gleich drei erwähnenswerten Tagen
aufwarten: Am 2. Februar war Mariä Lichtmess, am 3. wird der Hl. Blasius,
Patron gegen Halsweh, gefeiert und am 5. Februar schließlich der Festtag der
Hl. Agatha begangen. Lichtmess war gleichzeitig der Schlänggltoog – der Beginn
des bäuerlichen Arbeitsjahres, der Tag, an dem Knechte und Mägde schlänggln,
also ihre Stelle wechselten, sollte es einen Grund dafür geben. Hatten sie
schon lange nicht mehr geschlängglt, war das natürlich für beide Seiten ein
gutes Zeichen. Im Vinschgau war man mit der Frage, ob überhaupt geschlängglt
wird, schon sehr früh dran. In Kastelbell wird sie im Dezember gestellt, im
oberen Vinschgau sogar schon zwischen Gålli (16. Oktober) und Martini (11.
November). Den Abschluss der Schlängglzeit bildet die erwähnte Hl. Agatha. Die
größten Feierlichkeiten dazu fanden in Karthaus in Schnals statt. Ein Vorschlag
am Ende: Bei so vielen Feiertagen fehlt nur noch ein Tag des Vintschger
Sprachgutes.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (60)
Die Vinschger Saga (Fünfzehnter Teil)
Das neue Jahr 2012 ist nun schon fast einen
Monat alt und wenn es nach den üblich verdächtigen Weltuntergangsphantasten
geht, ist es das letzte der Menschheit – wie schon 1997, 1988, 1983 usw. Von
diesen Faseleien hatten auch Håns-Sepp und Mena gehört, als ihre Enkelinnen
Jessica und Jennifer am Weihnachtstag zu Besuch waren. Immer wieder bemerkten
die beiden Großeltern, dass die Welt der beiden Mädchen meilenweit von ihrer
eigenen entfernt ist. Und so begannen sie ihnen von früher zu erzählen, wie es
war ånna doozamool, als man sich durch Falutta schiabm die Haushaltskasse
aufgebessert hatte und die Fairassakranz immer pünktlich bezahlte wurde. Am
Sonntag nach dem Amt – was das ist, musste ihnen Mena erst erklären – hatte der
Frschraier lautstark die neuesten Nachrichten verbreitet. Der Frschraier war
übrigens oft der Organist, über den man ab und zu sagen hörte: „Dr Organischt
drggråagglts aa nimmer“. Ja, ja, die guten alten Zeiten, seufzte Håns-Sepp und
erzählte weiter, auch von den weniger guten. Zum Beispiel von seinem Vater
Håns-Luis. „Itamool mäa 's Prout håtter drgråmmlt falauter zånnluckat und di
Fläach hoobman taiflisch kaschtigaart.“ Als Jessy und Jenny, wenig interessiert
an alten Geschichten, wiederum mit abstrusen Theorien aufwarteten, ärgerte sich
Håns-Sepp über deren sinnlosen Zeitvertreib: „Friarer hoobm t'Madlan z'Sunntas
ausgnait!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (59)
„Ziigngleggl“
„St. Josef, bitt um eine glückliche
Sterbestunde!“ Dies ist ein Teil der Inschrift auf dem 80 kg schweren
Ziigngleggl (auch Zinggleggl) in der Kirche zum Hl. Luzius in Tiss bei
Goldrain. Sein Festtag wurde erst kürzlich am 2. Dezember gefeiert. Dass wir
ihn außer in Goldrain auch noch in der Pfarrkirche von Laatsch und in der
Kapelle in der Fürstenburg in Burgeis, also gleich drei Mal hier finden, hängt
damit zusammen, dass der Vinschgau bis 1816 kirchenrechtlich zum Bistum Chur
gehörte und St. Luzi, wie er auch genannt wird, der dortige Bistumspatron ist.
Das Ziigngleggl ist, wie heute noch weithin bekannt, die Sterbeglocke und wurde
früher bereits geläutet, wenn der Sterbende in den letzten Zügen lag – daher
auch der Name. Das Sterbeglöcklein in Tiss stammt übrigens aus dem Jahre 1925
und wurde, wie zwei weitere Glocken, von Giovanni Colbacchini aus Trient
gegossen. Er hatte der Legierung Blei beigemischt, wodurch es
unerwünschterweise zu Tonschwankungen kommt. Geschwindelt wurde eben immer.
Nochmals zurück zum Hl. Luzius. Er heilt unter anderem Kranke von ihrem Fieber
und befreit Besessene von ihrem Wahn. Angesichts der nicht enden wollenden
Schuldenkrise in Europa und den oft kaum nachvollziehbaren Rettungsaktionen
scheint es nicht unsinnig zu sein, diesen Heiligen anzurufen. Möge der Euro
nicht in den letzten Zügen liegen!
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (58)
„Klaubauf“
Der Ausdruck in der Titelzeile passt sowohl
zum Abschlussfest nach der Apfelernte, als auch zum Krampus. Bleiben wir schon
aus Gründen der Aktualität bei der zweiten Bedeutung. Das Brauchtum rund um den
Nikolaus ist im Vinschgau sehr reichhaltig, zum Beispiel in Stilfs, Langtaufers
und Mals, um nur drei Orte zu nennen. Der Krampus tritt – im Unterschied zu dem
bei uns nicht gebräuchlichen Knecht Ruprecht – meist in größeren Gruppen auf
und gehört zum alpenländischen Adventsbrauchtum mit langer Tradition. Einige
Historiker, und damit werden sie nicht ganz falsch liegen, führen den Brauch
auf heidnische Zeiten zurück, vielleicht sogar keltischen Ursprungs. Wer
zwischen lautes Schreien, Kettenrasseln und Schellenläuten gerät, kann sich
durchaus in lang vergangene, finstere Zeiten zurückversetzt fühlen. Noch ein
anderer Gedanke: „Daß man für uns den heiligen Niklas oder, besser, den mit dem
heiligen Niklas wandernden »Klaubau« als Furchtmittel bei der Erziehung
angewendet, will ich nicht allseitig loben. Aber eine Erziehung ohne
Furchtmittel gibt es nicht, und gewiß gibt es kein besseres Betragen vor Gott
sich verantwortlich zu machen!“, schreibt der Geistliche Lorenz Leitgeb vor
etwa 100 Jahren. Man stelle sich vor, welche Reaktionen diese Aussage – heute
als Leserbrief in einer lokalen Tageszeitung veröffentlicht – auslösen würde.
Verbitterte Befürworter auf der einen Seite, grenzenlos aufgeklärt Scheinende
auf der anderen. An einer echten, respektvollen und konsensorientierten Diskussion
sind beide Lager nicht interessiert. Das riecht nach Arbeit für den Klaubauf!
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (57)
„Hoobergåaß“
Der Schrei ist unheimlich; er geht durch Mark
und Bein; und man hört ihn stets in nächtlicher Dunkelheit. Kein Wunder, dass
dadurch oft gespenstische Gedanken ausgelöst werden. Urheber dieses akustischen
Schreckens ist ein Nachtvogel, der im Volksmund Hoobergåaß genannt wird. Je
nachdem, welche Quelle man konsultiert, ist damit ein Uhu, eine Eule oder ein
Waldkauz gemeint, aber wahrscheinlich sind alle drei Zuordnungen korrekt. Es
gibt allerdings noch eine andere Bedeutung. Lassen wir zunächst die Gåaß
beiseite, dann bleibt immerhin noch der Hoober. Der Dialektsprecher bezeichnet
damit den Hafer – das „b“ anstelle des „f“ stammt noch aus dem
Mittelhochdeutschen (mhd. haber). Während man den Roggen als Brotgetreide
verwendete, war der Hafer typisches Futter für das Vieh. Der Hafer verweist
damit ins Reich der Tiere, im Volksglauben aber auch an den Anfang des
Ackerbaus und somit in heidnische Zeiten. Die sagenhafte Hoobergåaß muss wohl
als ein Vegetationsdämon entstanden sein und wurde erst später zu einer Spuk-
und Schreckgestalt herabgestuft. Auch von der äußerlichen sprachlichen Form hat
sie eine interessante Wandlung durchgemacht. Ursprünglich war sie eine
„caper-Geiß“, also eine Bocksgeiß. Erst eine volksetymologische Umdeutung hat
daraus die Hoobergåaß gemacht, wodurch eines der ersten zahmen Haustiere mit
dem oft als europäischen Urgetreide bezeichneten Hafer verknüpft wurde. Wie
auch immer: Eine Hoobergåaß zu sehen, gilt vielfach als böses Omen. Ob ein
schrill schreiender Vogel im Dunkeln oder eine zwittrige, dreibeinige Bocksgeiß
furchteinflößender ist, sei jedem Leser selbst überlassen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (56)
Die Vinschger Saga (Vierzehnter Teil)
„Deer håt åan in di Heïrn!“, hörte man in den
Gassen tuscheln, als Håns-Sepp vom Ooteeglan im Gasthaus lautstark und
sichtlich angetrunken in Richtung Menas Nuudlwelger torkelte (dabei kam er gar
nicht vom Törggelen, das wie das Torkeln im lateinischen „torculum“ für
„Weinpresse“ seinen sprachlichen Ursprung findet). Es waren wirklich schwierige
Monate für ihn. Die Kräfte ließen allmählich nach, was für einen Mann wie
Håns-Sepp, der sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte, nicht so einfach
zu verkraften war. Hinzu kam noch, dass der Sohn Hias wieder einmal durch
familiäre Unstetigkeit glänzte und ebenso dem einen oder anderen Tulljee nicht
abgeneigt war. So suchte Håns-Sepp paradoxerweise selbst Erleichterung im
Tuudlan, Zigglan und Pipplan – wie immer er es auch gerade nannte. Seine Frau
Mena war darüber natürlich alles andere als erfreut und der schon erwähnte
Nuudlwelger blieb nur wirkungsloses Symbol der Ermahnung. Es half auch nichts,
dass sie ihr ganzes dialektales Repertoire auspackte, um ihm klarzumachen, wie
furchtbar sein Verhalten war: „huuderlochzaach“, „schtotzlochvoll“, „moul“, „an
Tåmpf hoobm“ und „neebm di Aisn sain“ waren nur einige der Ausdrücke, die sie
verwendete. Schlimm waren sie allesamt. In ihrem Schmerz fiel ihr auf, was sie
ihm da alles an den Kopf geworfen hatte. Es musste sich um ein altes und weit
verbreitetes Problem handeln, sonst würde der Mensch nicht so viele Ausdrücke
dafür besitzen
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (55)
„Mutt/Schtaar“
Grenzen gibt es viele. Die Grenzen zu den
Grundstücken des Nachbarn. Die Grenzen des ethisch Tolerierbaren. Die Grenzen
des guten Geschmacks. Auf der anderen Seite leben wir in einer Zeit, in der
Grenzen zunehmend an Bedeutung verlieren. Wer kann sich denn nicht mehr
erinnern, wie es war, als man am Reschenpass noch kontrolliert wurde oder man
auf der anderen Seite mit Lire-Scheinen, die ohnehin nicht viel Wert waren,
noch weniger anfangen konnte? Doch wir wollen uns heute einer sprachlichen
Grenze nähern und uns mit alten Getreidemaßen beschäftigen. Je stärker sich
feudale Strukturen, aber auch der Handel entwickelten, desto wichtiger wurden
die Maße. Obwohl Naturalienabgaben hier seit römischen Zeiten bekannt sind,
stimmen die Getreidemaße nicht mit den römischen überein. Ein Schtaar zum
Beispiel entsprach im 16. Jahrhundert einem Volumen von 31,1 l, die Mutt (von
lat. modius) hingegen war 1½ Schtaar gleichgestellt. Doch so einfach ist die
Angelegenheit leider nicht. Beiden Einheiten wurden zu verschiedenen Zeiten in
verschiedenen Ortschaften unterschiedliche Mengen zugeordnet. Oft geschah dies
sogar innerhalb eines Ortes, wenn es sich um verschiedene Getreidesorten
handelte – kein Wunder, da es keine zentrale Normierungsinstitution gab.
Immerhin kann man aber genau angeben, in welchen Gebieten des Tales man die
Einheiten verwendete. Die Grenze verlief ziemlich genau in Prad. Von dort
aufwärts benutzte man die Mutt, von Prad abwärts das Schtaar. Klare Grenze.
Dass manch einer heute immer noch Grenzen verschieben will, ist allerdings eine
andere interessante Geschichte.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (54)
„Fätzener“
Früher hat man den Oktober als Weinmonat oder
Weinmond bezeichnet. Der Vinschgau ist zwar traditionell nicht als
ausgesprochene Weingegend bekannt und auch heute noch das kleinste
Weinanbaugebiet Südtirols, er hat sich aber in den letzten Jahrzehnten zu einem
zunehmend geschätzten Gebiet mit interessanten Spitzenweinen entwickelt. Die
Weingüter befinden sich zu einem großen Teil am Hang des Sonnenberges, die Böden
sind sandig und lehmig und der Humusgehalt ist gering, weshalb eine künstliche
Bewässerung unabdingbar ist. Aber dafür ist der Vinschgau ohnehin bekannt. Wenn
man bedenkt, dass es mittlerweile gut 300 Winzer gibt, mehrere Gemeinden als
DOC-Gebiete anerkannt sind und der Vinschgauer Weinbauverein in diesem Jahr
sein 30. Jubiläum feiert, dann kann man von einer bemerkenswerten
Erfolgsgeschichte sprechen. Dass aus dem Vinschgau allerdings guter und auch
anderenorts geschätzter Wein kommt, war nicht immer so. Ganz im Gegenteil. Noch
bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hat man hierzulande Wein nur für den
eigenen Bedarf angebaut und der Wein aus Vetzan, der sprichwörtliche Fätzener,
war gewöhnungsbedürftig. Manche beschreiben ihn als einen „eher rauen Burschen“
und böse Zungen behaupten sogar, der Essig, den man Jesus am Kreuz gegeben
hätte, wäre in Wirklichkeit Wein aus Vetzan gewesen. Worin liegen nun die
Gründe für den Wandel? Der Erfindungsreichtum der Vinschger Weinbauern spielt
dabei sicherlich eine genauso große Rolle wie klimatische Veränderungen. Ob
sich hinter diesen allerdings der ultimative Beweis für die Klimaerwärmung
versteckt, können Klimaskeptiker und Erwärmungsgläubige bei einem Glas guten
Vinschger Wein diskutieren.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (53)
„Reïdamåcher“
Ein Reïdamåcher ist ein Handwerker, der
Räder, aber auch Holzstiele, Griffe und Schlitten herstellt. Schnitt. Martin
Luthers Veröffentlichung seiner berühmten Thesen im Jahre 1517 gab den Weg frei
für reformwillige religiöse Gruppen. Unter ihren Anführern befinden sich
bekannte Namen wie Münzer, Zwingli und Calvin, aber auch weniger bekannte wie
Grebel und Blaurock. Als eine der Geburtsstunden der (Wieder-)Täuferbewegung
gilt die Taufe Jörg Blaurocks im Jänner 1525 in der Nähe von Zürich. Die
Täufer, die u. a. die Kindertaufe unterließen, sich für eine strikte Trennung
von Kirche und Staat aussprachen, die Obrigkeit ablehnten und die
Gütergemeinschaft pflegten, waren von Beginn an einer massiven Verfolgung
ausgesetzt. Aus diesem Grund zerstreuten sich die Gläubigen schon bald in alle
Richtungen, so auch nach Tirol, wo mit Jakob Hutter ein besonders überzeugter
Verfechter wirkte. Auch er konnte seinen Glauben nicht in der Heimat leben und
gründete die „Hutterischen Brüder“ in Mähren. Bereits 1527 beklagte man sich
beim Pfleger zu Glurns und Mals, Jakob Trapp, über die wiedertäuferischen
Aktivitäten von Jörg Blaurock. Immerhin gilt der Vinschgau durch die Nähe zu
Graubünden als eines der Tore, durch das die Täuferbewegung nach Tirol kam. In
Graun, Taufers, Glurns, Schlanders, Kortsch und Kastelbell beispielsweise gab
es Gemeinden, doch die Verfolgung dieser religiös-sozialen Gruppierungen war
hart. Wer nicht widerrief, wurde geköpft, ertränkt oder verbrannt. Die meisten
Gläubigen verschwanden in der Anonymität der Geschichte, aber immerhin sind im
Vinschgau (laut Aufzeichnungen) etwa 100 Personen bekannt, darunter Apollonia
Puxer aus Taufers, Paul Schweiggl aus Mals, Jakob Regätsch aus Latsch und der
„Reïdamåcher“ von Schlanders.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (52)
Die Vinschger Saga (Dreizehnter Teil)
Hias und Touna on tour. Ehemalige
Studienkollegen der Kinder von Håns-Sepp und Mena sind zu Besuch und möchten
einige Vinschger Dörfer kennenlernen. Die beiden holen ihre Wiener Freunde am
Bahnhof von Schlåndersch ab und bringen sie gleich nach Geïflan. Immerhin
sollen die Besucher sehen, wie echte Tiroler aussehen. Weiter geht es dann über
Kourtsch und einige wenige Äpfel mit einem Zwischenstopp af Litz nach Loos,
denn – auch das sollen ihre Freunde erkennen – der Mensch lebt nicht von
Marilln allein, ohne Marmor geht es hier nicht. Der heilige Siinas und dessen
seit dem 13. Jahrhundert urkundlich erwähnte Kirche werden ebenso beehrt, wie
etwas weiter die berühmt-berüchtigten Mortadällahaiser in Schluderns.
Eigentlich hätten auch Gumps, Liachtawärg und Seïles auf dem Programm stehen
sollen, aber man entschied sich, diesen Umweg doch auszulassen. Nicht hingegen
den Tartscher Piichl mit den kämpfenden Seeungeheuern an den Wänden der
St.-Veit-Kirche. Man dankt noch schnell dem Riviselchu für die schöne Aussicht
und setzt die Reise fort. Målz ist auf der Hauptstraße schnell erreicht und
ebenso schnell auch wieder verlassen. Und so treffen sie auf ihrer letzten
Etappe in einem kleinen Weiler auf einen Einheimischen, der eine bekannte
Weisheit von sich gibt: „Af Ultn kochn si an Pultn, troogn si’n af Plawänn,
sälm frisstn kåa Hänn, af Alsåck do frisstn kåa Fåck und af Planåal homm sin aa
lai fåal, når troogn si’n af Målz, sälm frässn si di Pfånn zåmp ållz.“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (51)
„Kirchatuurn“
Dass mit Kirchatuurn ganz einfach ein
Kirchturm gemeint ist, dürfte keinen Leser erstaunen. Und dass das „n“ am Ende
des Dialektwortes ein Überbleibsel des mittelhochdeutschen „turn“ für Turm ist,
dürfte ebenso wenig überraschen. Immer wieder wurde an dieser Stelle auf diese
zwischen 1050 und 1350 gesprochene Sprachstufe des Deutschen hingewiesen. Eine
erwähnenswerte Geschichte, in der ein Kirchturm eine zentrale Rolle spielt,
betrifft Latsch. An einem Sonntag kamen
die Bauern des Ortes zusammen, da der Bürgermeister etwas Wichtiges zu
verkünden hatte. Auf dem Kirchturmdach würde das herrlichste und üppigste Gras
wachsen. Da es sich dabei um Gemeindegrund handle, solle man darüber beraten,
wie das Gras zur Fütterung verwendet werden könne. Mehrere Vorschläge wurden
gemacht und ebenso schnell wieder verworfen. Allgemein wurde jedoch bezweifelt,
dass sich jemand finden lässt, der aufs Dach steigt und das Gras mäht. Zu groß
sei die Gefahr. Doch dann hatte Josefs Sohn Michael, vulgo Seppmuch, eine
zündende Idee: Man solle einen Stier mit einem Flaschenzug auf das Kirchendach
hieven. Gesagt, getan. Dem Stier wurde ein Strick um den Hals gelegt, er wurde
hinaufgezogen, als er aber oben ankam, schien er wenig Begeisterung für die
saftige Mahlzeit zu zeigen. Man ließ ihn verwundert wieder herunter und
bemerkte, dass der Stier nicht mehr lebte. Man hatte ihn stranguliert. Doch die
Latscher sind mit ihrem Missgeschick nicht allein. Eine ähnliche Geschichte
wird auch über die Bewohner der Nordtiroler Orte Uderns, Karres und Pill
erzählt.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (50)
„Draist vnd Tait“
„Ich nehme die rote Kreide, Frau Lehrerin,
ader?“ An diesen Satz kann ich mich noch gut erinnern. Ich war in der 1. Klasse
der Grundschule, die damals noch Volksschule hieß, und einem meiner Mitschüler,
nennen wir ihn Ivan, ist hier ein kleiner sprachlicher Fehler unterlaufen. Für
viele Kinder, damals wie heute, beginnt der engere Kontakt zur Hochsprache erst
mit dem Eintritt in die Schule. Die Unsicherheit, nun plötzlich Schriftsprache
sprechen zu müssen, zeigt sich hier in dem Wörtchen „ader“. Eigentlich wollte
Ivan „oder“ sagen, aber er glaubte, einem dialektalen „ou“ müsse immer ein
hochsprachliches „a“ entsprechen. Für einige Fälle gilt dies tatsächlich;
denken wir nur an Toul und Tal. Ein schönes historisches Beispiel aus dem
Vinschgau, das bestens zu dieser Episode passt, entdecken wir im hinteren
Schnalstal, um genauer zu sein, in einem Pfostenspeicher neben dem
Marchegger-Hof. Dort finden wir einen über vier Wände geschriebenen Gebetstext,
der wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert stammt. Egon Kühebacher, der wohl
bekannteste Sprachforscher Südtirols, hat sich 1977 im „Schlern“ damit
auseinandergesetzt. Eine Zeile des Textes wollen wir uns genauer anschauen: TO
PIS MEIN VÖLS VND MEIN STÖRCH UND MEIN DRAIST WEN MIER DER STRENGE TAIT IETS
NIT MER DAN („Du, [Herr], sei mein Fels und meine Stärke und mein Trost, wenn
mir der strenge Tod jetzt nichts mehr tut.“) Der Schreiber hat versucht, ein
ihm dialektal geläufiges Gebet in Hochsprache wiederzugeben. Dazu einige
Anmerkungen. Erstens: Der Schreiber verwendet „TO“ für „Du“, da er nicht immer
zwischen dem harten „t“ und dem weichen „d“ unterscheidet – typisch für den
Dialektsprecher. So werden in Tiroler Dialektwörterbüchern alle Wörter, die mit
„t“ und „d“ beginnen, stets gemeinsam gereiht. Zweitens: Das „PIS“ bedeutet
„sei“ und nicht „bist“, wie man vielleicht vermuten könnte. Der Schreiber
gebraucht hier den mittelhochdeutschen Imperativ „bis“, so wie wir auch heute
noch zahlreiche dialektale Ausdrücke verwenden, die sich aus dem
Mittelhochdeutschen erhalten haben (z. B. Eïrta, gabig, Liismer). Drittens: Bei
„DRAIST“ und „TAIT“ ist dem Schreiber derselbe Fehler wie Ivan in der 1. Klasse
unterlaufen. Ein „åa“ (wie in Tråast und Tåat) kann hochsprachlich ein „o“,
aber auch ein „ai“ sein (z. B. råat = rot; Påan = Bein). Irrtümlicherweise nahm
er den zweiten Fall an und glaubte, er müsse „Tåat“ mit „Tait“
verhochsprachlichen. Ein wundervolles Beispiel dafür, was passieren kann, wenn
der Dialektsprecher Hochsprache verwendet und unsicher ist. Und wie sieht es
umgekehrt aus? Dazu ein kleines Experiment: Wenn Sie das nächste Mal eine
Apotheke wegen eines Aspirins aufsuchen, verlangen Sie probeweise
Azetiilsaliziilsair. Aber hoffentlich nur zum „Draist“ und nicht gegen den
„Tait“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (49)
„Fåckatoschg“
Mals. Vor einigen Jahrhunderten. Punkt
Mitternacht. Ein Bauer hört aus seinem Schweinestall hinter dem Haus laute
Schreie. Er begibt sich hinaus, um nach dem Rechten zu sehen und entdeckt seine
verstorbene erste Frau, die mit Ruten auf die Schweine einschlägt. So heftig,
dass die armen Schweine entsetzt durcheinander laufen und versuchen, auf die
Wände zu springen. Der Bauer fragt die Verstorbene, warum sie denn die Tiere
quäle und die Angesprochene antwortet: „Ich habe bei meinen Lebzeiten den
Schweinen gegeben, was ich armen Leuten geben sollte, und kann nur dann Ruhe
finden, wenn ich die größte Sau in meine Gewalt bekomme. Überlass mir
freiwillig das Tier, dann will ich davongehen und nicht mehr wiederkommen.“ Der
Bauer übergibt daraufhin der Frau das Schwein, sie setzt sich auf das verlangte
Tier und reitet auf demselben davon und in den nahen Bach hinein, wo sie damit
verschwindet. So weit die „Tatsachen“ nach Johann Adolf Heyl. Das, was man den
Schweinen gemeinhin gibt, wird im Vinschgau als Fåckatoschg bezeichnet, ein
meist aus Küchenabfällen bestehendes Futter. Ob die Frau eher zu ihrem
Seelenheil gefunden hätte, wenn sie die Küchenabfälle armen Menschen gegeben
hätte, sei dahingestellt. Interessanter ist, dass sich der Fåck aus einem
althochdeutschen „farh“ entwickelt hat und sich der „Toschg“ als Wort für
Minderwertiges oder Schlechtes sogar im Norwegischen („tosk“) oder
Portugiesischen („tosco“) findet. Verbales Abwerten scheint universal
menschlich zu sein.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (48)
Die
Vinschger Saga (Zwölfter Teil)
Es war ein langer und anstrengender Tag für
Håns-Sepp. Als Pensionist im „Tasch mr“-Verein sollte er es zwar gewohnt sein,
keine Zeit zu haben, weil er immer und überall gebraucht wurde – dafür sorgte
schon seine Mena –, aber es gab doch immer wieder Tage, die eine ganz besondere
Herausforderung darstellten. Es begann schon am Morgen. Mena warf Håns-Sepp
vor, er würde nur flåckn, und es wäre sinnvoller, wenn er sich endlich um die
Ordnung im Keller kümmern würde. Es galt sich der Marmeladengläser und
Saftflaschen anzunehmen. Håns-Sepp widersprach nicht und machte sich an die
Arbeit. Doch kaum machte er den Eindruck, er würde kurz titschlan oder
inknåppm, kam auch schon der nächste Arbeitsauftrag. Dieses Mal war der Garten
an der Reihe. An ein Knapperle, Naunggerle oder Tousarle war ohnehin nicht zu
denken. Doch Håns-Sepp war nicht mehr der Jüngste und so erwischte ihn Mena
mitten am Nachmittag beim Pårchn. Am Ende des Tages, wer konnte es ihm
verübeln, wirkte Håns-Sepp oolaag und taasi. Er brachte noch ein schwaches „Iaz
bin i wirkla drmuttlt“ hervor und legte sich ins Bett. Doch nach einiger Zeit
begann er plötzlich zu wiiflan und Mena war um ihren Schlaf gebracht.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (47)
„Raiter“
Es gibt Wörter, die weder außergewöhnlich
klingen, noch auf den ersten Blick den Eindruck vermitteln, eine besondere
Bedeutung zu besitzen. „Raiter“ ist so ein Fall. Wäre mit dem Wort lediglich
ein Mensch hoch zu Ross gemeint, würde man es vielleicht eher in einem
Rechtschreibwörterbuch nachschlagen und wohl kaum im Zusammenhang mit dialektalen
Ausdrücken erwähnen. Doch hinter „Raiter“ steckt wesentlich mehr. Zum Beispiel
die Pallnraiter, das große, runde Sieb zum Trennen von Heu und Heublumen. Sieht
man es jedoch auf ein Stadeltor oder auf eine Straße gemalt, so wird man Zeuge
eines alten Brauchs. Belegt ist dieser
zum Beispiel für Schlinig, aber auch für andere Vinschger Orte und sogar für
Pfunds im Oberen Gericht. Es war am Vorabend einer Hochzeit üblich, eine
stilisierte Raiter an das Tor des Stadels oder auf die Straße vor dem Heimathaus
der Braut oder des Bräutigams zu malen. Oft ist dies mit Teerfarbe geschehen
und ebenso oft wurde zusätzlich mit Pfeilen oder Sägemehl die Richtung der
Verflossenen angegeben. Wahrscheinlich wollte man damit ein symbolisches
Aussieben im Zuge der Partnerfindung andeuten. Viel Bedeutung für ein einfaches
Wort. Und wenn einem nichts mehr einfällt, wie mir jetzt gerade, dann ist das
nicht viel mehr als „a Furz in dr Raiter“. Und ich hoffe, dass deshalb niemand
„räart wi'a rinnete Raiter“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (46)
„Kraanawit“
Wenn man ein Buch kaufen will – der Welttag
des Buches wurde eben erst am 23. April begangen –, so ist es durchaus
hilfreich, wenn man die ISBN-Nummer kennt. Technisch gesehen kein Problem,
sprachlich hingegen schon. Wenn man über das HIV-Virus spricht oder ein Handy
mit LCD-Anzeige besitzt, dann liegt übrigens dasselbe Problem vor. In den drei
erwähnten Abkürzungen steckt schon der nachfolgende Begriff: Das N in ISBN
steht für Nummer, das V in HIV für Virus und das D in LCD für Display, also
Anzeige. Ebenso könnte man an dieser Stelle über Kraanawitholz schreiben. Womit
wir endlich beim Thema wären. Kraanawit (manchmal auch Kraanamit) ist der noch
weithin bekannte Ausdruck für Wacholder. Das genügsame Zypressengewächs kommt meist
auf trockenen Böden vor und wird auf vielfache Weise genutzt. Die Beeren zum
Beispiel enthalten zwar leicht giftige ätherische Öle, werden aber doch zum
Aromatisieren von Speisen, wie Wildgerichten und Sauerbraten, sowie von
Spirituosen, wie Gin und Wacholderschnaps, verwendet. Das schon genannte
Kraanawitholz hingegen wird gerne zum Räuchern genutzt. Sprachgeschichtlich
lässt sich der Begriff auf die Wörter „kran“ für Kranich und „wite“ für Holz
zurückführen. Wenn man also von Kraanawitholz, von Kranichholzholz spricht,
begeht man eine unnötige Verdoppelung. Genauso könnte ich am Bancomatschalter
meine PIN-Nummer vergessen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (45)
„Wachapfinzta“
Worauf sich der Ausdruck „Pfinzta“ für
Donnerstag zurückführen lässt, wurde bereits vor zwei Jahren an dieser Stelle
erklärt (Folge 3). „Wachapfinzta“ bezeichnet nun einen ganz speziellen
Donnerstag, jenen der Karwoche, also den Gründonnerstag. Allgemein wird zwar
angenommen, dass das „grün“ nichts mit der Farbe zu tun habe, sondern aus dem
althochdeutschen „grinan“ für „weinend den Mund verziehen“ entstanden sei, aber
das ist mittlerweile nur einer von mehreren Erklärungsversuchen. Das „grün“
könnte auch daher herrühren, dass es seit mindestens dem 14. Jahrhundert belegt
ist, dass man an jenem Tag nur grünes Gemüse und grüne Kräuter gegessen hat.
Wie auch immer. Am Wachapfinzta kann man in Mals, wie an jedem Donnerstag der
Fastenzeit, den so genannten „Sinker“ bewundern. Es handelt sich dabei um eine
Holzstatue, die den knienden Heiland am Ölberg darstellt. Das Besondere daran
ist, dass die Statue ein einfaches Getriebe besitzt, wodurch sich der Kopf Jesu
bewegen kann. Die Gläubigen beten davor den Schmerzhaften Rosenkranz und beim
ersten Gsatzl neigt sich das Haupt Jesu tief hinunter und die große Glocke
läutet – insgesamt drei Mal wie am Ölberg. Dass die Malser stolz auf ihren
Sinker waren und die Tauferer sich deshalb ärgerten, führte schließlich dazu,
dass sich letztere einen ähnlichen Jesus bauen ließen und verkündeten „Iaz
brauchmr enkern Hearrn nimmer.“ Vorösterliche Dorfrivalität!
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (44)
Die
Vinschger Saga (Elfter Teil)
Es ist Langas. Endlich etwas Wärme. Endlich
mehr Zeit, die man in der Natur verbringen kann. Das dachten sich auch
Håns-Sepp und Mena und hatten sich deshalb sehr gefreut, dass ihre Tochter
Touna mit deren beiden Kindern Jessica und Jennifer zu Besuch kamen. Gut, über
die Vornamen ihrer beiden Enkelinnen waren die beiden etwas verstimmt, aber man
schob das auf den Einfluss ihres Schwiegersohnes aus dem Unterlånt. Immerhin
sei sie nicht mit einem Bozner nach Hause gekommen, das warschon etwas. Nun,
das sollte an diesem wunderschönen Frühlingstag keine Rolle spielen. Jessy und
Jenny spielten mit den Nachbarskindern und ein eifriger Zuhörer hätte dabei
allerlei schöne Auszählreime vernehmen können. „Åschpale Muggn / Di Kua håt
fiir Tuttn / Di Gåas håt lai zwåa / Unt di Hänn legg an Åa.“, zählte man gleich
zu Beginn. Eines der älteren Nachbarskinder meinte, es würde einen ähnlichen
kennen: „Hårdimitzn, Schualitzn / Di Kua håt fiir Zitzn / Di Gåaß håt lai zwåa
/ Unt di Hänn legg an Åa.“ Jessy legte nach: „Karlina Karlotta håt Äartepfl
gsotta / Håt Kiiblmilch trunkn / Håt di gånz Nåcht gštunkn!“ Und auch Jenny
fand einen schönen Reim: „Inzer Kåtz håt Junge kriagg / A siima, åchta, naini /
Åans håt kåa Schwanzl kåpp / Nårr schteckmrs wiider aini.“ Da tauchte plötzlich
eine kleine Katze auf und die Auszählreime waren vergessen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (43)
„Gåtz“
Vorige Woche feierte der Nationalstaat
Italien den 150. Jahrtag seiner Gründung. Am 17. März 1861 hatte Vittorio
Emanuele II. von Sardinien-Piemont auf Beschluss des ersten gewählten
italienischen Parlaments den Titel eines „König von Italien“ angenommen. Der
Rest ist mehr oder weniger bekannte Geschichte. Dass dieser (Feier-)Tag nun in
Südtirol ganz unterschiedlich aufgenommen wurde, konnte man in aller Breite und
Länge der lokalen Presse entnehmen. Ob man an den Feierlichkeiten teilgenommen
hat, offiziell oder inoffiziell, oder vielleicht hinter vor- oder weggehaltener
Hand über die Waltschen hergezogen ist, mag an dieser ansonsten doch recht
unpolitischen Stelle keine Rolle spielen. Dass der Volksmund abwertende
Benennungen für den Nachbarn oder den unliebsamen Fremden kennt, dürfte außer
Frage stehen. Eine bei uns ohnehin kaum bekannte und auch sonst nur mehr sehr
selten verwendete Bezeichnung für Südländer im Allgemeinen und Italiener im
Besonderen ist Katzelmacher. Der Begriff hat, entgegen vielfacher Meinung,
nichts mit den beliebten Haustieren zu tun, sondern lässt sich auf das
spätlateinische „cattia“ zurückführen, aus dem sich das deutsche Wort „Gatzel“
entwickelte. Diese hölzernen Schöpflöffel wurden vielfach von italienischen
Schnitzern hergestellt und verkauft, wodurch diese eben zu den Katzelmachern
wurden. Das Küchenutensil kennt man auch im Vinschgau. Ein sehr alter Ausdruck,
heute noch am ehesten im Schnalstal bekannt, ist „Gåtz“ und bezeichnet dort
eine Suppenkelle.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (42)
„Schaibaschloogsunnta“
Der Aschermittwoch beschließt die laute
Fasnacht und eröffnet die besinnliche Fastenzeit. In Schnals zum Beispiel
läuten die Kirchenglocken am Fasnachtsdienstag um Mitternacht die Fasnacht aus.
Der darauf folgende Sonntag nimmt eine besondere Stellung im kulturellen Leben
ein. Je nach Gegend gibt es dafür unterschiedliche Bezeichnungen:
Houlerpfånnsunntig im Passeiertal, Kaassunnti im Burggrafenamt und im
Vinschgau, vor allem im oberen Vinschgau, ist es der Schaibaschloogsunnta. In
den Holepfannfeuern, den Hexenfunken und eben auch im Scheibenschlagen sehen
wir die kultischen Schlussfeiern der einstigen Fasnacht, die sich bis in die
heutige Zeit retten konnten. Beda Weber beschreibt dies wunderbar: „Das Thal
gewährt einen zauberischen Anblick, und die einbrechende Nacht legt sich mit
unbeschreiblichem Reitz auf das Flammengewühl. Zuletzt nehmen die Jünglinge
flammende Brände, laufen auf einander los, selbst Gluth umströmt, der Wind
facht das Feuer erst recht an. Wollte man die Raserei wildester Leidenschaft
darstellen, so könnte man kein trefflicheres Bild dafür ausfindig machen.“
Ursprung und Grundzüge sind all diesen Feuern gemein, im Detail findet man doch
von Ort zu Ort Variationen, beispielsweise im Aussehen der Larmschtång, im
genauen Ablauf oder in den dazu geschrieenen Scheibensprüchen: „Hii raim unt
hee raim, fir weïm soll eppar dia Schaip sain. Dia Schaip isch fir dr Mena und
oi drmit.“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (41)
„Schtaudnvintschger“
Dass alte Rivalitäten zwischen den einzelnen
Dörfern des Vinschgaus dazu geführt haben, auch in den Übernamen der Bewohner
wertend aufzutreten, haben wir schon vor Monaten gehört – man denke nur an die
Gluurnzer Schtattlscheißer (vgl. „Ausdrücke“ Nr. 28). Eine traditionelle und
weithin bekannte Einteilung treibt hingegen einen Keil in den Vinschgau und
macht aus den Talbewohnern entweder Edlvintschger oder Schtaudnvintschger. Doch
wo genau dieser Keil nun anzusetzen ist, darüber ist man sich im Detail nicht
immer einig und hängt auch ein wenig davon ab, wen man fragt und wo dieser
selbst wohnt. Mathias Insam zum Beispiel schreibt in einem Beitrag, in dem er
sich damit beschäftigt, dass für manchen die Schtaudnvintschger von der Töll
bis auf die Laaser Höhen zu finden sind – womit er die Einwohner von Schlanders
eindeutig zu den Vinschgern unter den Erlenbüschen und Weinstauden rechnet;
ganz im Gegensatz zu den Gluurnzer Edlvintschgern auf den saftigen Weiden und
Matten. Diese Zweiteilung ist zweifelsohne historisch bedingt und speist sich
u. a. aus kulturellen Unterschieden. Die Edlvintschger bedienten sich länger
des Rätoromanischen und bevorzugten im Vergleich zum unteren Vinschgau den rätoromanischen
Steinbau als Haustyp. Sie zeichnen sich zudem durch einen etwas kleineren
Menschenschlag aus, gelten aber als die edlen und damit die echten Vinschger –
mit ihren guten und auch weniger guten Tugenden, zu denen Schlauheit, aber auch
Hinterhältigkeit zählt. All das kann man natürlich von einem Schtaudnvintschger
nicht verlangen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (40)
Die
Vinschger Saga (Zehnter Teil)
Håns-Sepp und Mena sitzen ausgesprochen
harmonisch in ihrer Küche, lesen mittwochs wie üblich die neueste Ausgabe des
„Vinschgers“ und freuen sich dieses Mal, dass sie und ihr Dialekt bereits zum
zehnten Mal mit leichten Seitenhieben Thema eines Beitrages sind. Mena hat aus
diesem Anlass besonders festlich aufgekocht – Glåapets kommt in so einem Fall
gar nicht in Frage – und Håns-Sepp hielt sich mit seinen Äußerungen zurück. In
früheren und viel wilderen Zeiten konnte es schon einmal vorkommen, dass er
Menas Essen wenig charmant als Gfras oder sogar als Gspuala bezeichnet hatte
(oder in seinen Bart murmelt, dass Hännahirn und Fratschlgräascht nicht übler
schmecken konnten) . Der heutige Tag hatte jedenfalls schon gut mit hauseigenem
Glaananinsutt begonnen, ein ausgiebiges Hållmittoog verkürzte die Zeit
zumindest kulinarisch und zu Mittag sollte es im selben Stil weitergehen. Mena
gab sich mit der Schnäamilch große Mühe, wusste sie doch, dass sie zu
Håns-Seppens Leibspeisen gehört – wobei Essen bei Håns-Sepp schon immer eine
große Rolle gespielt hatte und Mena manchmal staunte, was und vor allem wie er
solche Mengen verdrücken konnte. Heute bemühte er sich aber nicht zu påntschn
und schon gar nicht zu schoppm oder zu ruachn. Nachdem die Schnäamilch bereits
verspeist war, verblüffte er Mena erneut: „I hatt iaz an Mourds Giis aff
Engalåtti.“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (39)
A
glickseelis Nuijoor ...“
Nachdem Julius Caesar vor gut 2.050 Jahren
halb Europa erobert hatte, ärgerte er sich über das Kalenderchaos in den
Provinzen. So verfügte er im Jahre 46 v. Chr. unter anderem, dass das Jahr
nicht wie bisher üblich am 1. März, sondern am 1. Jänner beginnen muss. Dieser
Schritt war zwar bereits früher beschlossen, aber nicht in die Tat umgesetzt
worden. Seltsamerweise vergaß man, die Monate neu zu benennen, so sind
September, Oktober, November, Dezember heute nicht mehr siebter, achter,
neunter, zehnter Monat. Aber das ist eine andere Geschichte. Rund um den
Neujahrstag hat sich ein reichhaltiges Brauchtum entwickelt. So wurde u. a. in
Kortsch, Eyrs und Tschengls um zwölf Uhr mittags das neue Jahr eingeschellt.
Die Kortscher Buben trafen sich dazu im Oberdorf beim letzten Bauern und
beteten das Mittagsgebet. Dann zogen sie schellend von Hof zu Hof und erhielten
dafür Äpfel (die es heute dort im Überfluss gibt). Auch in Stilfs rückten die
Burschen aus, sangen ein Neujahrslied und erbaten den Segen für das kommende
Jahr, ein Brauch, der auch in Planeil, Matsch, Lichtenberg und Tannas zu finden
ist. Den Kindern gab man dann Kekse, Krapfen, Nüsse oder ein wenig Geld. „A
glickseelis Nuijoor, s Krischtkindl afn Altoor, di Muatergottes drneebm – Gäa,
kanntsch mr it aa a Kraizerle geebm?“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (38)
„Apfäntfrauatoog“
Stimmen wir uns ein wenig auf Weihnachten
ein. Die Apfäntzait wurde früher (auch ohne Dauerbeschallung) wesentlich
intensiver erlebt. Man bereitete sich auf das Weihnachtsfest vor, Rorategehen
am Morgen und Rosenkranzbeten waren an der Tagesordnung. Beides gehörte dazu.
Ein besonderer Tag in dieser Zeit der Erwartung war der Apfäntfrauatoog (auch
Apfäntfrauntoog), der vorige Woche am 8. Dezember als Fest der Unbefleckten
Empfängnis Mariens gefeiert wurde. Ein Tag, der noch heute in mehreren Ländern
als gesetzlicher Feiertag begangen wird, so auch bei uns. Schüler kommen zu
einem freien Tag und die Geschäftsleute freuen sich über Kundschaft in kaum
vorstellbarer Quantität aus südlicheren Gefilden. Zum Apfäntfrauatoog gehörte
auch, dass der Pfarrer den Mädchen und Jungfrauen eine Standespredigt hielt,
war dieser Tag doch besonders ihnen gewidmet. Dabei war der theologische
Hintergrund des Festes von Anfang an umstritten und wird, nebenbei erwähnt, von
evangelischen, orthodoxen und altkatholischen Christen abgelehnt. Im
Spätmittelalter diskutierte man, wie es denn möglich sein konnte, dass Maria als
„normaler“ Mensch Teil des Erlösungswerkes sei. Ganz einfach: Maria selbst
wurde ohne Sünde empfangen – für viele eine wenig überzeugende Lösung. Doch das
stört weder den Schüler, der sich über einen unterrichtsfreien Tag freut, noch
den Händler, der seine Keramikengel an Mann, Frau und Wohnwagen bringt.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (37)
„Faschaangält“
Wir schreiben das Jahr 2010. Die Anzahl der
Menschen, die immer häufiger über das Internet einkaufen, egal ob es sich dabei
um elektronische Geräte, Bekleidung oder Einrichtungsgegenstände handelt,
steigt kontinuierlich. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Verkaufsmodelle
(ohne natürlich einen Namen zu nennen, denn dieser Beitrag wird schließlich
nicht durch Produktplatzierung finanziert). Es ist beispielsweise möglich, die
eigenen Waren gegen eine Provision auf einer Plattform samt Bild und
Beschreibung anzubieten und darauf zu hoffen, dass sie ein Interessierter zu
einem angemessenen Preis ersteigert. Ist die Beschreibung des Produkts in einer
Sprache verfasst, die der Interessent nicht versteht, so übernimmt ein anderer
Internetdienst die Übersetzung derselben. Ja, das ist heute alles möglich, ohne
dass ein Mensch eingreift. Blicken wir hundert Jahre zurück, in das Jahr 1910.
Ein Bauer entscheidet, sich auf einem Viehmarkt nach neuen Kühen umzusehen. Auf
dem Markt trifft er auf einen Faschaan, der sich als Vermittler und Berater
anbietet, sich aber auch als Dolmetscher betätigt und so als Zwischenglied
zwischen dem Käufer und dem Verkäufer auftritt. Die Bezeichnung „Faschaan“
lässt sich höchstwahrscheinlich auf ein lokales „fascian“ als Bezeichnung für
einen Bewohner des Fassatales zurückführen. Selbstverständlich sind die
Vermittlungs- und Übersetzungsdienste nicht ganz kostenfrei und der Faschaan
bekommt seinen finanziellen Anteil am Geschäft, womit wir beim dialektalen
Ausdruck „Faschaangält“ sind. Es hat sich nicht viel verändert.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (36)
Die
Vinschger Saga (Neunter Teil)
Es war ein ganz besonderer Tag. Håns-Sepp und
Mena bekamen Besuch. Nicht der übliche Besuch, auch nicht die Nachbarin Seffa
mit ihrem Kaffee. Ein Dialektforscher hatte sich telefonisch angekündigt und
wollte mit ihnen ein gründliches Gespräch über ihre Mundart führen. Die beiden
hatten zugesagt, waren sie doch für jede Abwechslung dankbar, und die
Neugierde, wer denn nun dieser junge Mann sei, der sich für ihr „Gerede“
interessiere, tat ihr übriges. Pünktlich um 13 Uhr klingelte die Hausglocke und
der Forscher stand mit einem Stapel Unterlagen unter dem einen Arm und einem
Gerät – wie sich später zeigen sollte, handelte es sich dabei um ein
Aufnahmegerät – unter dem anderen vor der Tür. Sie baten ihn in die Stube und
dort begann er sogleich mit seiner Arbeit. Ob sie schon immer hier gewohnt
hätten, wollte er wissen, woher ihre Eltern kamen ebenso. Dann begann er nach
Ausdrücken und Wörtern zu fragen und notierte sich alles auf seinen Blättern.
Tomaten, Stricknadeln, Rucksäcke, Körbe, Balkone, Großmütter, Johannisbeeren
und Sommersprossen – alles schien ihn zu
interessieren. Wie sie zur Jauche sagen würden oder zu einer roten Ameise oder
zu einem großen Schlitten für den Heutransport, es gab keinen Bereich, der
nicht angesprochen wurde. Der junge Mann kannte anscheinend keine Grenzen. Wie
er denn sagen würde, wenn er uriniere, wollte er schließlich von Håns-Sepp
wissen. Das war dann doch zu viel.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (35)
„Säalamårkt“
Märkte gibt es in unserem Land viele: den
Steegamårscht in Stegen zum Beispiel – übrigens der größte Markt Tirols –, den
Kåthreinemårscht in Mühlen, den Josefimårkt in Salurn, den Markusmårkt in Auer,
den Martinimårkt in Girlan, den Ultner Mårkt (selbstverständlich) im Ultental,
im Vinschgau schließlich den Michäalimårkt im Martelltal, den Låntsproochmårkt
in Goldrain, den Gållimårkt in Mals, ja, und zu Allerseelen natürlich den
Säalamårkt in Glurns. Begonnen hatte alles im 13. Jahrhundert, als die Grafen
von Tirol dem Bischof in Chur schaden wollten, indem sie dem Markt in Müstair
Konkurrenz machten. Graf Meinhard II. führte damals den Bartholomäus-Jahrmarkt
ein; Glurns war schon zu Römerzeiten ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und
damit ein Ort regen Handelns. Doch der ursprüngliche Markt verlor im Laufe der
Jahrhunderte durch Kriege und soziale Veränderungen zunehmend an Bedeutung. Das
änderte sich allerdings im 19. Jahrhundert, als Kaiser Ferdinand I. von
Österreich einen weiteren Markt einführte, nachdem die Glurnser bei der
Innsbrucker Regierung eine Verlegung der anderen Märkte erbaten. Besonders in
den letzten Jahrzehnten hat sich der Säalamårkt als Institution etabliert und
wurde so zum größten und beliebtesten Jahrmarkt im Vinschgau. Kulinarische
Leckerbissen dürfen da selbstredend nicht fehlen, Schweinernes oder Wurst mit
Kraut, saure Suppe, Rindsgulasch mit Knödel, Wildgerichte, aber auch Kastanien
und – keinesfalls zu vergessen – die allseits beliebte Manderlatta.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (34)
„Schiinagglan“
Wir haben bereits im Zusammenhang mit dem
Ausdruck „Tercharar“ von den Juden und der jiddischen Sprache gehört. Das
Jiddische ist – zur Erinnerung – ein mit hebräischen und slawischen
Sprachelementen vermischter deutscher Dialekt, der zunächst zu drei Vierteln
aus mittelalterlichem Deutsch und einem Viertel hebräischen Ausdrücken bestand;
durch den Kontakt mit dem slawischen Sprachraum kamen weitere Ausdrücke hinzu.
Die etwa ab dem 17. Jahrhundert in Richtung Westen zurückwandernden Juden
brachten dieses Jiddisch mit. Verwandt mit dem Jiddischen ist auch die
Gaunersprache, das so genannte Rotwelsch, die Geheimsprache der Vagabunden, des
fahrenden Volkes und Vertretern unehrlicher Berufe. Der Wortschatz setzt sich
meist aus deutschen Mundartwörtern und verhüllenden Ausdrücken zusammen und hat
einen starken jiddischen Einschlag. Er entstand durch den Kontakt der Diebesgauner
mit jüdischen Händlern – zwei Außenseitergruppen. Im gemeinsamen Gespräch
konnte der Gauner eine Menge Ausdrücke aus dem Judendeutsch lernen und in
seinen Geheimjargon einbauen. So schafften es zahlreiche Begriffe auch nach
Tirol und in den Vinschgau. Wenn wir Wörter wie „muffn“ (stinken), „piiber“
(kalt) oder eben „schiinagglan“ (hart arbeiten) verwenden, benutzen wir diese
alte Geheimsprache. Letzteres geht zurück auf das jiddische „Schinagole“, die
Schubkarre, und wer „schiinaggelte“ leistete ursprünglich eine Zwangsarbeit für
die Obrigkeit. Heute ist es vielleicht nicht mehr eine feudale Obrigkeit, die
uns hart arbeiten lässt, „geschiinaggelt“ wird trotzdem.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (33)
„Långkraiz“
Es ist etwa 22 Meter hoch, der Querbalken misst
9 Meter und es steht auf der Malser Haide. Die Rede ist vom Långkraiz, einer
historischen Landmarke im oberen Vinschgau. Das Kreuz mit dem Kreis und den
Befestigungsdrähten ragt einsam im Gelände empor und markiert die alte Grenze
zwischen den Gerichten Glurns/Mals und Nauders. Erwähnt wird es schon im
Mittelalter, seit mindestens 1258 ist es als Zollgrenze urkundlich belegt. Das
heutige Långkraiz ist eine Nachbildung älterer Exemplare. Immer wieder war es
umgefallen und wurde neu aufgestellt – aber nicht immer an derselben Stelle,
wie ein Blick auf Peter Anichs Landkarte von Tirol aus dem Jahre 1774 zeigt.
Dort ist es auf der Höhe des Südufers des Haider Sees an der Straße
eingezeichnet. Doch das Långkraiz hatte nicht nur die Aufgabe Gerichtsbezirke zu
trennen, sondern war mit dem Kreis wohl auch als Abwehrzeichen gegen böse
Mächte zu verstehen, insbesondere gegen die wilde Jagd, die man für heftige
Winde und Schneestürme verantwortlich gemacht hatte. 1648 wurde es wieder
einmal neu aufgestellt. Jakob Grafinger, der damalige Abt des Klosters
Marienberg, schreibt: „bin ich auf die hayd geritten, alda man das 56 schuech
hohe Großschreuz aufgricht [...] Sein in die 30 Pferd beisammen gewesen.
Nachdem man etwas gestritten, voneinander zochen.“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (32)
Die
Vinschger Saga (Achter Teil)
Der Sommer ist vorbei und am Abend wird es
immer schneller dunkel. Håns-Sepp und Mena sitzen gerne in der Stube und die
Nachbarn sind immer ein ergiebiges Gesprächsthema. Da sie mitten im Dorf
wohnen, ergibt sich daraus ein recht großer Kreis von Personen, a Kutt Lait,
wie Håns-Sepp sagen würde. Die Franza zum Beispiel sei a glischtige Äafa, das
wusste er schon immer, man würde es auch am Körperumfang sehen, den Seebi
hingegen, a gwaichtar Kundi, würde er trotz allem sehr schätzen, er sei ein
sehr schlauer Mann, auch wenn man ihm nicht immer voll vertrauen könnte. Mena
konnte dem nur zustimmen. Sie denke an die Nachbarn, die direkt über ihnen
wohnen, diese hätten di Nåat, dass es lai so stinkt! Umso bemerkenswerter sei
es, dass das erstgeborene Kind, die Agath, a touls Poppele war. Heute sei sie
aber durr wi’an auszochnar Åacher und hätte a Haut wi’a a larchane Rint und ihr
Bruder Flour würde sowieso fluachn wi’a Fuarmånn. Das war also eine Familie,
die häufig Gesprächsstoff lieferte. Wie übrigens auch die beiden Zwillinge von
nebenan, die Touna und die Frouna, die dauernd a Fuar und a Mettn hoobm und von
denen man Kunscht und Wunder drfroogn würde. Im Gegensatz dazu steht der
Nachbar Waschtl, der fast nie sein Haus verlässt und alles Fremde meidet.
Håns-Sepp ist davon überzeugt, dass dies kaum als ein Vorteil gesehen werden
kann: „Deer håt no nia inan främmen Haisl oigschissn!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (31)
„Schpuuzmiil“
1.200 Stunden hat der Marteller Leander
Regensburger zusammen mit seinem Großvater Norbert Holzknecht an der
Restaurierung einer alten Schpuuzmiil in Gand gearbeitet. Es handelt sich
hierbei um eine Stockmühle, wie sie bereits vor Jahrtausenden erfunden worden
ist. Das Wasserrad steht nicht wie bei den meisten Mühlen senkrecht, sondern
befindet sich in einer waagrechten Position. So ist eine Mühle diesen Typs
nicht von der Wassermenge auf den Schaufeln abhängig, sondern wird allein durch
den Druck, das das Wasser ausübt, angetrieben. Die Schpuuzmiil in Gand wurde in
einem steilen Gelände angelegt, um den natürlichen Wasserdruck auszunutzen und
ist seit mindestens 1888 urkundlich belegt. Um eine solche Mühle allein könnte
man eine kleine Dialektwörtersammlung zusammenstellen: Zunächst muss man das
Miilwåsser über ein Miilråar inkäarn, beim eigentlichen Mahlvorgang gibt es
dann die Gosse (den Aufschüttkasten; wahrscheinlich von mhd. goz, giezen),
darunter befinden sich Laafer und Leeger (die Mühlsteine), im Paitlkåschtn wird
das Mehl von der Grisch (die Kleie; vgl. ital. crusca) getrennt; im
Grischrittler kann die Kleie weiter bearbeitet werden, um so die feinere von
der grobkörnigeren zu trennen – um nur einige Wortbeispiele zu nennen. Das Mehl
wird dann zum Brotbacken verwendet. Bleibt nur zu hoffen, dass das Brot rougla
oder zuugwåach ist und nicht knotthert wird.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (30)
„Råat“
Am 24. August wird das Fest del Hl.
Bartholomäus begangen. An diesem Tag sollte nach altem Brauch nicht nur das
Gruamat unter Dach sein (und für den Bauern der Herbst beginnen), sondern es
war auch Zeit für das Partlmeewåsser – eine besondere Råat. Die Råat bezeichnet
das Wasserrecht, aber auch den zeitlich und mengenmäßig festgelegten
Wasseranteil. Diese Wasserrechte, typisch für den trockenen Vinschgau, sind
schon früh schriftlich fixiert worden, einige Urkunden gehen bis auf das 13.
Jahrhundert zurück. So wird der Ausdruck „Råat“ vermutlich aus dem romanischen
roda, rota entstanden sein und auf die Rotation der Wassernutzung anspielen.
Ein wichtiger und geachteter Mann war der Waaler. Er beobachtete den
Wasserfluss, wachte über die Wasserzuteilung am Tag sowie in der Nacht, führte
Instandsetzungsarbeiten durch, verwaltete die Bücher und vertrat die
Gemeinschaft bei Rechtsstreitigkeiten. Um Auseinandersetzungen bei der
Zuteilung der Råaden zu verhindern, wurde die Abfolge der Wasserableitungen oft
durch Auslosung geregelt. Dabei wurden aus einem Sack Holzstäbchen mit den
Erkennungsmarken der Höfe gezogen und so die Turnusabfolge festgelegt. Diese
Råaden waren meist eng mit dem Hof und nicht mit den darauf lebenden Personen
verbunden. Wie genau aber die Bewässerungszeiten auf- und eingeteilt wurden,
besonders dann, wenn nur wenig Wasser vorhanden war, kann an dieser Stelle aus
Platzgründen nicht erörtert werden. Deïs dauert a Räadl.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (29)
„Eïslheïbm“
Es gibt Bräuche, die – werden sie nicht heute
schriftlich festgehalten – in wenigen Jahren vollkommen in Vergessenheit
geraten. Das Eïslheïbm gehört wahrscheinlich dazu und es wäre schade darum. Der
früher unter anderem in Schlinig, Schleis und Schluderns verbreitete Brauch
kreiste um den letzten Getreidehalm und die letzte Garbe auf dem Feld. In
Zeiten, in denen die Arbeit mühsam und erholende Unterhaltung im Vergleich zu
heute selten war, entwickelten sich eben unterschiedliche Rituale rund um die
Arbeit. In Schluderns zum Beispiel versteckte man im entferntesten Teil des
Ackers eine Flasche mit Rotwein, den man Eïslpluat nannte. Wurde nun der letzte
Getreidehalm abgeschnitten, strich einer der Schnitter mit dem Wetzstein über
den Sichelrücken und erzeugte so einen schrillen Ton. Das war das Signal für
alle, dass es Zeit war, das „Eselblut“ zu trinken. Oder anderenorts: Wenn auf
einem Feld nur mehr wenige Halme standen, erschallte die Aufforderung „Iez
ränn! Heïb in Eïsl!“ Der Gehilfe, dem die Aufforderung galt, rannte los und
krallte sich an die letzten verbliebenen Halme. Die anderen folgten ihm.
Standen nun alle um den so genannten Eïslschwåaf, wurde er mit einer schnellen
Bewegung abgeschnitten und der Gehilfe fiel unter großem Gelächter um. Es gab
eben weder RTL noch PRO7.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (28)
Die
Vinschger Saga (Siebter Teil)
Dass die „Liachtawärger“ gerne als
„Luttwärgasiader“ bezeichnet werden, haben wir bereits gehört. Doch es sind
nicht die Lichtenberger allein, für die es im Vinschgau einen Spott- oder
Necknamen gibt. So dürfte es auch kaum überraschen, dass bei Håns-Sepp und Mena
in hitzigen Diskussionen mit Vinschger Bekannten der eine oder andere dieser
Übernamen herausrutscht und damit eine Wortlawine auslöst. An diesem Sonntag
zum Beispiel. Mena hatte einen „Turt“ gebacken und eine Menge Leute eingeladen.
Nach einer anfänglich ruhigen Phase muss eine Aussage Håns-Seppens Zorn erregt
haben: „Du Plauser Krootnlackler!“ – „Sei schtill, Schleiser Pettscheißer!“,
verteidigte ein Schludernser den Plauser. „Du Dräckplattler!“, konterte
Håns-Sepp und der Bekannte aus Stilfs pflichtete ihm mit großen Gesten bei.
„Gäa, gäa, du Stilzer Hoorausfilzer!“, musste sich Letzterer anhören,
ausgerechnet von einem Glurnser, wie er fand: „Schtattlscheißer!“ Der
„Gåaßgooglschtattler“ war in seiner Ehre zutiefst gekränkt. Nun war die Gruppe
nicht mehr zu halten. Jeder beschimpfte jeden und als Außenstehender konnte man
kaum folgen (aber einen sprachlich interessanten Wortwechsel mitverfolgen). „Du
Kortscher Kropf!“, tönte es von links, „Målzer Långhålzer, elendiger!“, von
rechts. „Eïs Oubergrauner Panklhucker und Untergrauner Kneïdlschlucker!“, warf
schließlich ein Marteller ein. Der Waldberger „Wåltorgg“ musste sich noch
anhören, dass er „schårrn“ würde, als man bemerkte, dass ein weiterer Bekannter
gerade den Raum betreten und das Szenario mitverfolgt hatte. „Ess seids ålls
Vinschger Luugnpaitl!“, sagte der Meraner.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (27)
„Luttwärga“
Die Lichtenberger zwischen „Gumps“ und
„Seïles“ wurden in dieser Sprachkolumne bisher sträflichst und zu Unrecht
vernachlässigt. Das soll sich nun ändern. Zuerst aber eine kleine sprachliche
Rundfahrt. Zu einem dickflüssigen Holundersirup, einer so genannten
Holundersulze, sagt man im Vinschgau Luttwärga oder Lattwärga. Sprachlich lässt
sich ohne großen Aufwand eine Verbindung zum hochdeutschen Latwerge feststellen,
das jedoch in unseren Breiten weniger gebräuchlich ist und zudem noch etwas im
Detail Anderes bezeichnet. Mit Latwerge ist nicht unbedingt ein dicker Sirup
aus schwarzen Holunderbeeren gemeint, sondern vielmehr ein stark eingekochtes
Mus aus Zwetschken, Pflaumen, manchmal auch Wacholderbeeren oder Hagebutten.
Wir finden den Begriff selbstverständlich im Mittelhochdeutschen, der sich
wiederum aus dem lateinischen „electuarium“ entwickelt hat. Darunter verstand
man einen zähen Brei aus pulverförmigen Arzneien. Das lateinische Wort lässt
sich übrigens noch mit einem altgriechischen verbinden: „ekleichein“ bedeutet
„auflecken“ oder „auslecken“. Klingt alles nicht unbedingt appetitlich, wird
denn auch die Vinschger Luttwärga oft aus medizinischen Gründen zu sich
genommen. Ganz so unangenehm muss sie aber doch nicht sein, zumindest nicht in
Lichtenberg, denn die dortigen Einwohner – so die Volksmeinung – haben
Luttwärga besonders gerne eingekocht und auf ihre Brote geschmiert. So gerne,
dass die Bewohner den Übernamen „Liachtawärger Luttwärgasiader“ bekommen haben.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (26)
„Tercharar“
Was haben die Vinschger mit den Juden zu tun?
Sprache ist etwas Lebendiges und sich stetig Wandelndes und lebt nicht nur über
den fortgesetzten Gebrauch durch eine Gemeinschaft, sondern auch durch den
Austausch und Kontakt mit anderen. Die Herkunft eines sprachlichen Ausdrucks
erzählt somit immer auch eine Geschichte. In den vergangenen fünfundzwanzig
Folgen der „Ausdrücke ...“ konnten Begriffe nicht nur auf alt- oder
mittelhochdeutsche Wörter, sondern auch auf lateinische und griechische
Vokabeln zurückgeführt werden; sprachwissenschaftlich nichts Außergewöhnliches.
Eine höchst interessante Verbindung verdanken wir jedoch den Karrnern, von
denen wir in Zukunft noch öfters hören werden. Die Karrner, denen Luis Stefan
Stecher ein literarisches Denkmal gesetzt hat, bildeten sich vermutlich im 18.
Jahrhundert als eigene Gruppe im Obervinschgau heraus. Sie zogen mit Karren
durch das Land und lebten auf der Straße. Nach dem Ersten Weltkrieg
zersplitterten sich die Karrnersippen allerdings und nahmen so rapide ab. Als
fahrendes Volk war auch ihre Sprache vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. So
gibt es beispielsweise im Jiddischen, einer Sprache, die hauptsächlich von
Juden in Osteuropa gesprochen wurde, das Wort „derech“; es bedeutet „Weg“.
Daraus sind – über die Karrner – die Vinschger Wörter „Terchar“ und „Tercharar“
entstanden. Letzteres bezeichnet damit Landstreicher und im übertragenen Sinn
auch Menschen, die ständig „umt Weeg sain“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (25)
„Wialschar“
Das Gerücht hält sich hartnäckig. Die Inuit,
die früher wenig differenzierend als Eskimos bezeichnet wurden, sollen eine
Vielzahl von Vokabeln für Schnee besitzen. Diese Behauptung ist weit verbreitet
und auch in wissenschaftlichen und natürlich populärwissenschaftlichen Texten
begegnet man diesem Klischee immer wieder. Wer in schneereicher Umgebung lebt,
so die Begründung, wird ihn auch sprachlich unterscheiden – über 200 Wörter
sollen es sein, wie zahlreiche Quellen behaupten. Lange hatte dies niemand
kritisch überprüft, doch heute weiß man, dass es sich um einen unhaltbaren
Irrtum handelt. Trotzdem scheint es durchaus naheliegend zu sein, dass die
Umgebung die Sprache der Menschen beeinflusst. Wenn ein Vinschger Bauer vor
einem Maulwurfhügel steht und sich über die Wühltätigkeit des
insektenfressenden Säugers ärgert, bezeichnet er den Urheber des Übels als
Wialschar, Wialscheer, Wialschger oder Wialtscher. Im Grunde nichts Besonderes.
Was aber, wenn es an einem Ort gar keine Maulwürfe gäbe? Dann dürfte auch kein
Wort dafür vorhanden sein. Das scheint immerhin plausibel. Wer will schon etwas
bezeichnen, das in seinem Umfeld nicht existiert. So heißt es zum Beispiel,
dass die Tauferer im Münstertal keinen Begriff für Maulwurf haben, weil es dort
gar keine gäbe. Die Biester würden es nicht durch den Gålfawålt schaffen. Eine
interessante Hypothese.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (24)
Die
Vinschger Saga (Sechster Teil)
Das liebe Geld. Wieso sollte es bei Håns-Sepp
und Mena anders sein? Und die beiden hatten sich in ihrer Ehe schon um kleinere
Angelegenheiten gestritten. Mena wollte einige Ankäufe für das gemeinsame Haus
tätigen, aber Håns-Sepp hörte auf diesem Ohr schlecht. Als sie ihm vorwarf, er
würde sich „an Aaderle ooklämman“, trug das nicht unbedingt zur Entspannung der
Situation bei. Håns-Sepp verließ wenig entgegenkommend die Stube und Mena warf
ihm noch ein „Gältpäatsch!“ hinterher. Wäre Mena wie ihre Mutter, Geni selig,
hauptberuflich Bäuerin, hätte sie zumindest über etwas Åargält – oder
Ggåggelegält, wie man anderenorts sagt – verfügt und müsste ihren Mann nicht
wegen jedem Såckkraizer fragen. „I wärr dr schun di Hännen intäan!“, polterte
Mena ihrem Mann nach und folgte ihm nach draußen. Håns-Sepp war ein sehr
sparsamer Mensch und Verschwendung, unabhängig welcher Art, lag ihm seit jeher
fern. Mena wusste aber, dass man es auch übertreiben konnte und wollte ihm
deshalb „di Krax flickn“. Als er ihr erneut vorwarf, dass sie eine Menge Geld „frsulggern“
würde, tischte sie ihm auf, dass im Dorf schon geredet würde, weil er aussehe,
als hätte er „it ålla Fraita a Supp“. Er antwortete kurz angebunden: „I bin
guat in Fuater!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (23)
„Laitpitten“
Es wird noch einige Zeit vergehen müssen, bis
der Schockzustand, in den das Tal und das Land durch das tragische Zugunglück
geworfen wurden, überwunden ist. Kaum jemand, der nicht einen persönlichen
Bezug zum Unfall hat – und wenn es „nur“ darum geht, dass man jemand kennt, der
zufällig nicht im Zug saß oder mit dem Schrecken davon gekommen ist.
Ausgerechnet die Latschånder, diese wunderschöne, sagenumwobene Klamm zwischen
Kastelbell und Latsch, die als Grenze zwischen Unter- und Mittelvinschgau gilt,
wird von nun an unweigerlich mit dem Unglück verbunden sein. Der Tod war immer
ein allgegenwärtiger Begleiter des Menschen und das Brauchtum, das sich deshalb
rund um das Sterben entwickelt hat, war und ist sicherlich eine Hilfe, mit der
Trauer fertig zu werden. In Taufers im Münstertal gibt es den Brauch des
„Laitpittens“. Stirbt eine Person, sorgen die so genannten „Laitpitter“ dafür,
dass die Nachricht verbreitet und der Zeitpunkt des Begräbnisses bekannt wird.
Außerdem kümmern sie sich um die nötigen Helfer bei der Beerdigung. Diese
Laitpitter waren in der Regel weiter entfernte Verwandte, oft bis zum sechsten
oder siebten Grad, also nicht unmittelbar Betroffene, aber gerade in
schrecklichen Momenten wie diesen braucht es eine Gemeinschaft, die
zusammensteht
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (22)
„Fochetz“
Der Schmärznsfraita liegt hinter uns, die
Pålmpuschn in Kortsch und Kastelbell sind im Stall verstaut, der Wachapfinzta
und das Juudasfrprännen sind vorbei, die Tauferer schon lange betend von Kreuz
zu Kreuz gewandert, das heilige Grab ist aufgestellt und mit Åaschterkuuglan
geschmückt, anstelle der Glocken (die in Rom weilen) hat man in vielen Dörfern
die Ministranten mit ihren Ratschen vernommen, kurzum, die Åaschterwärbwoch ist
Vergangenheit. Je näher man dem Osterfest kommt, desto dichter wird das
Brauchtum und desto reichhaltiger die Tradition. „Es ist für den sinnlichen
Menschen darum so wichtig, dass er durch Sinnliches zum Übersinnlichen erhoben
werde“, hat Pater Lorenz Leitgeb schon 1905 dazu geschrieben. Doch es gibt auch
profanere Bräuche rund um das Osterfest. Ein beliebtes Kinderspiel zum Beispiel
ist das Guffen oder Päckn. Dabei werden – anfänglich weiße, nicht gefärbte –
Eier aufeinandergeschlagen, zunächst spitzes Ende gegen spitzes Ende, dann sind
die flachen Seiten an der Reihe. Der Besitzer des Eies, das dabei unversehrt
bleibt, erhält das zerbrochene als Siegestrophäe. Nicht vergessen werden sollte
schließlich die Tradition des Fochetz (von lat. focus = Herd), ein rundes und
süßes Brot, das die Kinder von ihren Paten bekommen; ursprünglich ein runder
Laib Brot in Form eines Sonnenrades und dazu noch drei Eier. Bleibt im Grunde
nur mehr eine österliche Frage zu klären: Können Osterhasen wirklich Eier
legen?
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (21)
„Langasfeïgl“
Wer dreißig Jahre alt ist, der zählt dreißig
Lenze, hat also schon dreißig Frühlinge erlebt. Dabei ist „lenze“ eine Kurzform
des mittelhochdeutschen „langez“, einem Begriff, den wir noch heute für die
Jahreszeit nach dem Winter verwenden. Der Weg in den verdienten Frühling ist
oft ein beschwerlicher, wenn man das Wetter der letzten Wochen betrachtet. Für
den Zeitraum der Wochen vor dem 21. März – oder im Falle des heurigen Jahres
dem 20. März – gibt es im Vinschgau zahlreiche Bräuche rund um die letzte Kälte
und die heiß ersehnte Wärme. So war es zum Beispiel in Taufers im Münstertal
üblich, dass die Schulbuben zu Beginn des Monats mit einem Schellenumzug den
Frühling weckten. In Kortsch spielte man zum diesem Zweck hingegen noch bis zum
1. Weltkrieg das Wilde-Mann-Spiel und in Tarsch bei Latsch war es das
Gregorispiel. Der Feiertag des Hl. Gregor am 12. März war zudem
jahrhundertelang ein Schulfesttag, im Vinschgau hat er sich sogar bis ins 19.
Jahrhundert erhalten können. Beliebt war das Gregorisingen, bei dem Lehrer und
ihre Schüler mit Trommeln und Pfeifen durch das Dorf zogen und die
Veränderungen in der Natur herbeimusizierten. Und wenn dann im Frühling nicht
nur die Vögel auf den Bäumen zwitschern, sondern auch noch die
Nassschneelawinen ins Tal stürzen, dann „singan di Langasfeïgl“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (20)
Die
Vinschger Saga (Fünfter Teil)
„Eerla?“, klang aus dem Telefonhörer.
„Fraila!“ Mena konnte es gar nicht glauben. Ihr Sohn Hias hielt es nach
längerer Zeit wieder einmal für angebracht, seine Eltern zu besuchen. Der Grund
war, man kann es sich fast schon denken, wieder einmal eine neue
Frauenbekanntschaft. Der Frühling macht sich im Tal langsam bemerkbar, der
Schnee hat sich „schtaatla“ zurückgezogen und auch seine Freundin Manuela war,
wie es landläufig heißt, Schnee von gestern. Die Zukunft gehörte Julia. Ginge
es nach seinen Eltern, sollte ihre Schwiegertochter „hausla“ sein, „reïdla“ und
„fraintla“ sowieso und die Arbeit im Haus musste sie „ordala“ erledigen. Hias’
Verflossene war zwar „furmala“, aber „umfachtla“ in ihrem Leben und ihre
Kleidung war in Håns-Sepps Augen einfach „graisla“. Damit hatte sie schon
verspielt. Als Julia und Hias „zaitla“ zum Mittagessen erschienen, war Mena um
familiären Frieden bemüht und wollte ihrem Ehegatten gewisse Neuigkeiten
„schuandla“ beibringen. Julia, ansonsten immer „fruatla“, stocherte etwas
unsicher im Essen herum, obwohl die Knödel „rougla“ waren wie es sich gehörte.
„Håaggla?“ Sie verneinte. Mena war diesbezüglich „zåasla wia a gscharflts Åa“.
Eine ungewohnte Tischgesellschaft. Sogar von Heirat wurde gesprochen. „Isch
deïs miigla?“, fragte ein sichtlich skeptischer Håns-Sepp.
„Selbschtverschtändla!“ – „Kluagla, Pua, kluagla! Deïs isch umgwaarla!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (19)
„In
gabiga Schlunt ouchi ...“
Was verkehrt, falsch, ungeschickt, launig,
eigensinnig, schief, böse, unrecht, halbverrückt, verrückt oder links statt
rechts ist, dafür hatte der Dialektsprecher schon immer einen ganz besonderen
Riecher. Man denke nur an die häufig benutzten Begriffe „letz“ und „lingg“.
Eine heute in vielen Vinschger Orten und Seitentälern nur mehr selten
verwendete Vokabel, die all diese Nuancen wie keine andere ausdrückt, ist
„gabig“. Es handelt sich hierbei um einen Begriff, der sich, wie viele andere
wunderbare Dialekt-Beispiele, aus dem Mittelhochdeutschen (1050-1350) erhalten
konnte und sich auf „abich“ und „ebich“ zurückführen lässt. Dabei kann man, wie
der Sprachexperte Johann Baptist Schöpf in seinem Werk „Tirolisches Idiotikon“
betont, davon ausgehen, dass die Wörter „abich“ und „gabich“ identisch sind. In
manchen Gebieten wird die erste Variante bevorzugt, in anderen die zweite,
manchmal bestehen beide nebeneinander. Daher finden wir auch in anderen Tiroler
Dialekten ähnlich lautende Ausdrücke; so sagt man zum Beispiel im Passeiertal
„gaabe“ – „uane glått, uane gaabe“ bedeutet beim Stricken „eine Masche glatt,
eine verkehrt“ – und in Deutschnofen „eïbi“, um nur zwei Gebiete zu erwähnen.
Und deshalb hat sich jemand auf gut Langtauferisch eben dann verschluckt, wenn
man ihn verärgert sagen hört: „Iaz isches mr in gabiga Schlunt ouchi ...“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (18)
„Schtoaßerloch“
Die Zahl 40 spielt in der christlichen
Religion eine bedeutende Rolle. So dauerte die Sintflut im Alten Testament
insgesamt vierzig Tage, auch der Aufenthalt des Mose auf dem Berg Sinai,
vierzig Jahre lang wanderten die Hebräer durch die Wüste, Jesus fastete vierzig
Tage lang und die Zeit zwischen Ostern und Christi Himmelfahrt beträgt
ebenfalls vierzig Tage. Allerdings umfasst noch eine weitere Zeitspanne vierzig
Tage – wenn dies auch weniger bekannt ist: der Zeitraum zwischen Weihnachten
und Mariä Lichtmess (oder auch Darstellung des Herrn), ein Fest, das am 2.
Februar gefeiert wird. Der Volksmund spricht vom wachsenden Tag, der um
Lichtmess schon so lang ist, dass für den Bauern das Arbeitsjahr beginnen
konnte. So ist verständlich, dass Mariä Lichtmess einer der größten Lostage im
Jahr war und sich dazu verschiedene Bräuche und Gewohnheiten entwickelten. Man
begrüßte zum Beispiel die Sonne, indem man Milch oder Rahm in das Fenster
stellte; in Naturns und Umgebung gab es das so genannte Schtoaßen, also das
Ausbessern und Herrichten des schadhaft gewordenen Holzes im Weinberg. Es war
Aufgabe der Frauen, die Reben festzubinden, wozu sie dünne, biegsame
Weidenruten verwendeten. Den Zeitpunkt für den Beginn dieser Arbeiten legte die
Sonne selbst fest. Wenn ihre Strahlen nach der Wintersonnenwende zum ersten Mal
wieder das Schtoaßerloch trafen, endete der winterliche Müßiggang.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (17)
„Liismer“
„Dära muass ma chrommi Strömpf lisma“ – ihr
muss man krumme Strümpfe stricken, so heißt es sprichwörtlich im Großen
Walsertal, wenn man sagen möchte, dass jemand krumme Beine hat. Die Walser sind
vor etwa 700 Jahren aus dem westlichen Oberwallis zugewandert und haben sich im
heute österreichischen Bundesland Vorarlberg niedergelassen. Sprachlich ist das
deshalb interessant, weil sie sich dabei ihr Hochalemannisch mehr oder weniger
bewahrt haben. Was hat das alles mit dem Vinschgau zu tun? Der Ausdruck „lisma“
für „stricken“, wie er im eingangs erwähnten Ausspruch verwendet wurde, ist
typisch für die Schweiz, folglich für den alemannischen Sprachraum. Obwohl das
Vinschgerische wie alle Tiroler Mundarten zu den südbairischen Dialekten
gehört, finden sich immer wieder eidgenössische Einflüsse, vor allem im oberen
Vinschgau. Bedingt ist dies natürlich durch die geographische Nähe, aber auch
durch die historische Verbundenheit. Das Wort „lismen“ gab es – wie bei so
vielen anderen Beispielen – auch schon im Alt- und Mittelhochdeutschen. Es
hätte sich demnach ebenso in anderen Tiroler Tälern erhalten können. Dass es
sich aber im Vinschgau ins Heute retten konnte, hängt mit der schon erwähnten
Nähe zu den Schweizer Nachbarn zusammen. Wenn also ein Vinschger verzweifelt
nach seiner Strickjacke sucht, dann fragt er ganz einfach: „Wou isch mai
Liismer?“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (16)
Die
Vinschger Saga (Vierter Teil)
Die weihnachtlichen Festtage sind schon
längst vorbei, es ist wieder Ruhe im Haus eingekehrt und, bemerkenswert genug,
der gute Vorsatz im neuen Jahr, weniger und vor allem weniger lautstark zu
streiten, wurde noch nicht über den Haufen geworfen. Håns-Sepp und Mena sitzen
friedlich in der zirbengetäfelten Stube und sind in ihrem Gespräch bei einem
stets dankbaren und vor allem für die beiden unverfänglichen Thema angelangt:
der Kaffee ihrer Nachbarin Seffa. Unverfänglich ist die Angelegenheit deshalb,
weil sich beide einig sind, was von diesem Kaffee zu halten sei. Er schmeckt
einfach grässlich und die Bezeichnungen „Lutta“, „Lutti“ oder auch
„Luttiwåsser“, die im Laufe des Gesprächs mehrfach fallen, scheinen die
Wirklichkeit adäquat zu treffen. Håns-Sepp meint aber, sie seien immer noch zu
beschönigend, denn hätte Seffa Suudlwåsser aus einem Plutterkiibl serviert, er
hätte keinen Unterschied geschmeckt. Allein sein Gesichtsausdruck bei dieser
Aussage verdeutlicht, dass er so schnell nicht mehr bei der Nachbarin vorbeischaut.
Mena sieht das zwar nicht ganz so eng, aber sie will ausnahmsweise nicht
widersprechen; ihr wäre es allerdings am liebsten gewesen, sie hätte simples
Prunnawåsser vorgesetzt bekommen. Håns-Sepp nickt verständnisvoll und freut
sich schon insgeheim auf seine Abendbeschäftigung mit seinen Arbeitskollegen,
was für die Lutta vom Vormittag entschädigen sollte. „Haint gäamer ordala
oilåssn!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (15)
„Guldanåmp“
Lassen wir für einen Moment die
Christkindlmärkte, den klebrigen Glühwein, die Scharen von Touristen und das
unvermeidliche „Last Christmas“ beiseite (wenn es doch wirklich das letzte
Weihnachten wäre, an dem dieses Lied die Gehörgänge verstopft). Der Advent, vom
lateinischen „adventus“ (Ankunft), ist – wie der Name schon sagt – die Zeit, in
der sich die Menschen auf die Ankunft des Herrn vorbereiten. Da diese Zeit
schon seit jeher einen herausragenden Stellenwert im Leben der Gläubigen
eingenommen hat, wundert es nicht, wenn die Mutter Kirche mit einer Vielzahl
von Besonderheiten für ihre Schäfchen aufwartete und so zahlreiche Bräuche
initiierte, die zum Teil heute noch gepflegt werden. Dazu gehört u. a. das
Guldanåmp (auch „guldane Åmp“ oder „Änglåmp), eine Frühmesse, die in der
Adventszeit morgens um 5 oder 6 Uhr gelesen wurde und, wie konnte es anders
sein, für die Kirchgänger mehr galt als eine normale Messe. Deshalb wurde
dieses Amt auch als golden bezeichnet. Damit reiht sich der Begriff bestens
unter seine sprachlichen und kulturellen Verwandten ein: Die Goldene Messe
(wenn sie besonders feierlich und festlich ist), das Goldene Jahr (wenn es ein
herausragendes Jubeljahr ist), das Goldene Fasten und natürlich der Goldene
Sonntag – da sind wir wieder bei Christkindlmarkt, Glühwein und „Last
Christmas“.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (14)
„Gåffrawåsser“
Manche Wörter legen eine lange Reise zurück.
Im hier vorliegenden Fall beginnen wir auf der Insel Sumatra in Südostasien,
setzen unseren Weg nordwestlich nach Indien fort, von dort aus nach Persien,
dem heutigen schlagzeilengebeutelten Iran, und Griechenland, der Wiege unserer
abendländischen Kultur, und landen schließlich in Europa mitten in den Alpen.
Die Rede ist von Kampfer, auch Campher geschrieben, oder dialektal Gåffra. In
Wasser angesetzt ergab er das bis nach dem Zweiten Weltkrieg bei Vielen
beliebte Gåffrawåsser. Einige Blättchen, die man in der Apotheke kaufen konnte,
wurden mit Wasser in eine Flasche gegeben und einige Zeit ruhen gelassen. Je
länger das Gåffrawåsser stand, desto schärfer wurde es. Reich an ätherischen
Ölen besitzt es einen charakteristischen, wohlriechenden, zum Teil
aromatisch-holzigen, ja sogar eukalyptusartigen Geruch. Eingesetzt wurde das
Gåffrawåsser als Durstlöscher, Verdauungsmittel oder auch als Medizin für und
gegen alles, zum Beispiel um den Kreislauf anzuregen. Auf jedem Hof und in
jedem Haus war es zu finden; wer Bedarf hatte, nahm einen Schluck aus der meist
allgemein zugänglichen Flasche. Heute wird es kaum mehr getrunken. Erstens ist
ein häufiges Trinken wegen einiger giftiger Inhaltsstoffe nicht zu empfehlen
und zweitens gibt es ein fast unüberschaubares Sortiment moderner Durstlöscher
– die vielleicht auch nicht immer gesund sind.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (13)
„Pluatschtellar
und Fuierschtellar“
Was würde thematisch besser zur 13. Folge
dieser Serie passen, als ein wenig über den in der Bevölkerung verwurzelten
Aberglauben zu sprechen? (Nur über die Schweinegrippe zu schreiben, wäre
momentan aktueller.) Seit jeher hat man einzelnen Menschen besondere, ja sogar
übersinnliche Fähigkeiten zugesprochen. Eine solche Gabe konnte beispielsweise
darin bestehen, Unangenehmes, Gefährliches oder Zerstörerisches auf- oder von
Menschen abzuhalten. Hatte sich jemand durch Unvorsichtigkeit oder einen Unfall
verletzt und blutete stark aus der Nase oder einer Wunde, so wurde er im
Ernstfall zu einem so genannten Pluatschtellar gebracht. Dieser gab ein paar
Sprüche und Gebete aus mehr oder weniger obskuren Quellen zum Besten und –
Aberglaube sei Dank! – das Blut hörte sofort auf zu rinnen. Waren hingegen Haus
und Hof durch einen Brand in Gefahr, war der Fuierschtellar gefragt. Sobald er
vor Ort auftauchte, geheimnisvoll murmelte und deutete, begnügte sich das Feuer
mit dem bisher Verbrannten und verschonte den Rest. Eine solche übernatürliche
Anlage konnte von der damit gesegneten Person übrigens, auch das ist im
Volksglauben verankert, an nahe Verwandte weitergegeben werden. Praktisch wären
solche Kräfte auch im 21. Jahrhundert. Ein paar flotte Zaubersprüche vom
Fåckngrippeschtellar und das Problem ist gelöst.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (12)
Die
Vinschger Saga (Dritter Teil)
Mena ärgerte sich schon seit Tagen, da ihr
Håns-Sepp keine Bereitschaft zeigte, notwendige Arbeiten im Haus etwas
schneller in Angriff zu nehmen. „Du håsch wiidr amåll kåan Firschigång.“
Kritik, und das sollte sie in den vergangenen Jahrzehnten mit Håns-Sepp
eigentlich gelernt haben, hat noch nie zum Ziel geführt. „I hån kåan Schlaun“,
antwortete er gelassen und provozierte damit seine Ehewirtin, wie es früher
hieß. „Du bisch a Näater, a långsåmmer Paater.“ Das wollte Håns-Sepp nun auch
wieder nicht unkommentiert stehen lassen. „Dia Årbatn gäan mr åanfåch it fa dr
Hånt“, konterte er, wenn auch etwas halbherzig und im Bewusstsein, dass die
nächsten Stunden anstrengend genug sein werden. So kam Menas Antwort
wortwendend und goss Öl in den ehelich-feurigen Streit. „A Getäarl und a
Geprängl. Måch fuudri!“ Die Stimmung war mittlerweile gefährlich aufgeheizt und
der Arbeitswille ohnehin fast am Nullpunkt angekommen. „Pugglan, schiinagglan,
kuian, Pluat spuckn – prumm, Mena, prumm?“ Die Antwort blieb sie vorerst
schuldig. Vielmehr begann Mena weiter auf dem Arbeitsunwilligen herumzuhacken
und packte ihr gesamtes dialektales Vokabular aus, um sein Trödeln
anzuprangern. „Ummarggåggalåarn“, „såandlan“ und „treesalan“ waren dabei noch
die harmloseren Wörter. Als Håns-Sepp schließlich kapitulierte und sich endlich
dazu aufraffte, an die Arbeit zu gehen, beobachtete sie ihn genau. „Håns-Sepp,
du huudlsch!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (11)
„Fraithouf“
Allerheiligen steht vor der Tür und
traditionell ist damit ein Besuch auf dem Friedhof verbunden. Dabei wird der
Verstorbenen gedacht, die dort – so hoffen wir – ihren Frieden gefunden haben.
Dass der Friedhof allerdings nichts mit Frieden zu tun hat, dürfte wenig
bekannt sein. Besonders im oberen Vinschgau spricht man gerne vom Fraithouf.
Ignaz Zingerle schreibt in seinen 1850 erstmals erschienenen „Sagen aus Tirol“:
„Einmal schaute der Malser Türmer um Mitternacht auf den Freithof hinab. Da sah
er, daß die Toten aus den Gräbern gestiegen waren und allerlei Tänze
aufführten.“ So beginnt die gruselige Sage des Malser Totentanzes. Wie wurde
nun aber aus dem Fraithouf der Friedhof? Im Mittelhochdeutschen hatte man den
Gottesacker noch „vrîthof“ geschrieben; gemeint war damit ein eingefriedeter
(!), also ein begrenzter Raum vor der Kirche, der für die Toten bestimmt war.
Als im 12. Jahrhundert die so genannte neuhochdeutsche Diphthongierung
einsetzte, wurde aus einem langen „i“ lautlich ein „ai“, und damit aus dem
vrithof der Fraithouf. Die eigentliche Bedeutung hatte man später vergessen, so
wurde das ursprüngliche „vrit“ als „Fried“ umgedeutet. Volksetymologie nennt
sich dieser Vorgang und tritt oft dann auf, wenn ein unbekannter Ausdruck nach
dem Vorbild eines vertraut klingenden Wortes angepasst wird. Den Malser Wächter
fand man übrigens – vom Turm geworfen – am Morgen tot auf einem Grab liegen.
Wirklich gruselig!
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (10)
„Pitterle
und Gutterle“
Wodurch wird die anstrengende Feldarbeit
während eines heißen Sommers erträglicher? Selbstverständlich dadurch, dass man
das richtige Getränk stets bei der Hand hat. Das kleine Holzfass, in dem
Wasser, lieber aber natürlich Wein, mit auf das Feld genommen werden konnte,
wird „Pitterle“ genannt. Ein altes bayerisches Nachschlagewerk weiß zu
berichten, dass sich darin „3 bis 6 Maß Flüssigkeiten zum Handgebrauch“ lagern
lassen, also gerade richtig für den Tagesbedarf eines Mähers. Der Ausdruck geht
auf das mittelhochdeutsche „büterich“ zurück, der damals für ganz
unterschiedliche Arten von Flüssigkeitsbehältern verwendet wurde, so zum
Beispiel für einen Krug, einen Weinschlauch und eben auch für ein Fässchen. Im
deutschen Sprachraum gibt es übrigens den Familiennamen Pitterich; der ursprüngliche
Träger dieses Namens muss wohl einen dicken Bauch gehabt haben, der seiner Form
nach an eine rundliche Flasche oder sogar ein Fass erinnerte. Doch Pitterle ist
nicht das einzige Vinschger Wort, das sich mit Bauchigem in Verbindung bringen
lässt. Ein weiterer interessanter Ausdruck ist „Gutterle“, eine größere
Flasche. Das Wort lässt sich sprachgeschichtlich – wieder einmal – auf das
Lateinische zurückführen. Dort bezeichnet „guttus“ einen enghalsigen Krug und
„gutta“ einen Tropfen. Kein Wunder. Schon die alten Römer wussten einen guten
Tropfen zu schätzen.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (9)
„Lergater
lergatn Lergat“
Was wie ein Zungenbrecher klingt, beschreibt
einen Vorgang, den man früher in heimischen Wäldern beobachten konnte. Lergat
ist das Harz der Lärche – auch bekannt als Lärchenterpentin – und der Lergater
ist der Lärchenharzsammler. Dazu wurden die Nadelbäume am Stammansatz
angebohrt; hier war der so genannte Lergatpourer gefragt. Die angebohrte Stelle
wurde nun mit einem Holzpflock abgedichtet; so konnte im Inneren des Baumes im
Laufe von Monaten die für Lärchen typische pechartige Flüssigkeit
zusammenfließen. Zwei Mal pro Jahr wurde das Harz gesammelt, im Frühling und im
Herbst. Dazu wurde der Zapfen herausgezogen und die Flüssigkeit in einem
Behälter aufgefangen; hilfreich waren dabei Lergatziacher und Lergatleffl. Da
man vom Lergatn recht gut leben konnte, gab es Wälder, in denen fast jede
Lärche angezapft wurde. So war es nur eine Frage der Zeit, bis man das Anbohren
verboten hatte, zum Beispiel vor über vierhundert Jahren in der Tiroler
Landesordnung von 1603. Wofür hat man nun dieses Lergat verwendet? Es scheint
ein Allzweckmittel gewesen zu sein. Schon Plinius berichtete von der Zubereitung
und der Verwendung von Lärchensalben bei Rheuma, Gicht und Ischias. Das
Lärchenterpentin ist wundheilend, schleimlösend, hustenstillend und
durchblutungsfördernd, wurde als Zugsalbe und zur Behandlung von Furunkeln und
eitrigen Wunden bei Mensch und Tier ebenso verwendet wie zum Schmieren von
Peitschen, als Klebstoff oder als Balsam unter der Bezeichnung „Venezianisches
Terpentin“. Ein Veneziano der anderen Art.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (8)
Die
Vinschger Saga (Zweiter Teil)
Der letzte Streit von Håns-Sepp und Mena war
noch gar nicht so lange her, da zogen schon neue Gewitterwolken am sonst klaren
Himmel auf. Anlass war der Besuch ihres Sohnes Hias – wir erinnern uns: der als
Kind ein Pånkert war – und seiner neuen Freundin Manuela. Manuela hatte es
schwer, die Anerkennung der möglichen Schwiegereltern in spe zu gewinnen, war
sie doch kaum des Vinschgerischen mächtig; als lupenreine Ausländerin auch
wenig verwunderlich (immerhin war sie gebürtige Meranerin). Es schien aber,
dass unter dem Einfluss einiger Gläschen auch das Sprachverständnis von
Håns-Sepp und Mena beeinträchtigt war. Die Fenster waren geöffnet und das Haus
wurde plötzlich von einem starken, unangenehmen Geruch erfüllt. „Tuat des
mischtalan!“ – „Na, starkalan!“ – „Na, na, des tuat schmarggalan!“ – „Wås? Do
teïbelets, stateïbelets und teïmerlets gewåltig!“ – „I soog, es printschalat
und prantalat!“ Hias war vom sich anbahnenden Streit seiner Eltern wenig
begeistert, da er wusste, wohin das üblicherweise führte. Er versuchte einzugreifen
und meinte, es würde ihn wenig kümmern, ob es nun „rantschalan“, „täatalan“
oder „fråttalan“ würde, auch könne es „muffalan“ oder „mäffn“, es interessiere
ihn nicht. Es stinke unerträglich und basta! „Do muffatuxelets!“, behauptete
Mena schließlich. „Na, Mena, do muffatunsgerlets!“, konterte Håns-Sepp wenig
überzeugend. Mitten im verbalen Chaos versuchte die sprachgewandte Manuela ihr
Glück: „Do meïlatoutelets!“ Håns-Sepp und Mena verstummten und sahen sich
verwundert an. Sie hatte recht.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (7)
„Wurmäntnschmålz“
Warum heißt das Murmeltier Murmeltier, wenn
es gar nicht murmelt, sondern schrill pfeift? Eine simple Frage, deren
Beantwortung recht gewunden ist. Am Anfang der dazu gehörigen Erklärung steht
eine Bergmaus. Im lateinischen Akkusativ heißt diese „murem montis“ und daraus
hat sich durch romanische Vermittlung im Althochdeutschen das Wort „murmenti“
gebildet. Schon sind wir nicht mehr ganz so weit entfernt vom Vinschger
Ausdruck für die putzigen Alpentiere. Die Bedeutung von „murmenti“ hat im 14.
Jahrhundert natürlich kaum mehr jemand verstanden und so wurde der Begriff
volksetymologisch nach dem Zeitwort „murmeln“ umgestaltet; übrigens eine nicht
seltene Praxis. So wird aus Nichtverstandenem Verständliches und aus einer Bergmaus
ein Murmeltier – oder wie man im Vinschgau sagt – eine Wurmänt. Auch im
alemannischen Sprachraum kennt man einen ähnlichen Ausdruck, dort spricht man
von Purmänta. In beiden Fällen wurde das erste „m“ in „murmenti“ durch einen
anderen Laut ersetzt, da man zwei gleiche vermeiden wollte. Dadurch werden
wichtige Laute für den Hörer besser wahrnehmbar. Unabhängig davon gibt es noch
weitere schöne Vinschger Ausdrücke: Das Fell eines Murmeltiers ist unter der
Bezeichnung „Wurmäntnpålg“ bekannt und gegen Gelenks- und Muskelbeschwerden
helfen Wurmäntneïl und Wurmäntnschmålz. Die Jagd auf Murmeltiere wird bei uns
mit angeblich von ihnen angerichteten Schäden auf Hochalmen gerechtfertigt. Das
stimmt aber nicht. So murmelt man.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (6)
„Klumper
und Gäawåadl“
Eine angeschlagene Gesundheit ist unangenehm,
aber darüber zu reden, ist eine ganz andere Angelegenheit – man braucht nur
älteren Herr- und Frauschaften in der Vinschgerbahn zuzuhören, dann bemerkt
man, dass es kaum ein ergiebigeres und dankbareres Thema gibt. Blicken wir ein
wenig in die Vergangenheit. Von allen Organen war besonders die Lunge anfällig
für Infektionen. Die Tuberkulose zum Beispiel ging meist mit einer Abnahme an
Körpermasse einher und hieß deshalb auch Auszehrung, Abserbung, Dörre oder
Schwindsucht. In Meyers Konversationslexikon aus dem Jahre 1888 wird als Grund
„der Hunger mit all den düsteren Helfershelfern, dem Mangel an Licht, Luft,
Reinlichkeit, guter Kleidung, Wärme etc.“ genannt. Auffallend an der Lungenschwindsucht
ist der hohl klingende Husten, weshalb sie, fast schon lautmalerisch, als
„Klumper“ bekannt war, eine Bezeichnung, die übrigens an die „Klumpra“, eine
große Schelle, erinnert. Und wer stark hustet, der „kriiglt“ auf gut
Vinschgerisch. Daneben plagten Ruhr, Cholera und Typhus die Menschen; in Europa
ist die Gefahr heute jedoch weitgehend gebannt. Alle drei Krankheitstypen
werden in der Regel von Durchfall begleitet, wofür es im Vinschgau neben
„Durchfiar“ einen originellen und wesentlich plakativeren Ausdruck gibt: „Gäawåadl“. Wer an der „Gäawåadl“ leidet, der sollte nicht
zögern, sondern „schnell gehen“, damit er es noch rechtzeitig an den Ort der
Erleichterung schafft
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (5)
„Pånkert“
Wenn man in einem Taufbuch auf den Hinweis
„filius illegitimus“ (oder im Falle eines weiblichen Täuflings „filia
illegitima“) stößt, so hat der Geistliche dadurch festgehalten, dass hier ein
uneheliches Kind getauft wurde. Je nach Gegend lag der Anteil an illegitimem
Nachwuchs vor Beginn des 20. Jahrhunderts etwa zwischen 2% und 20% – im
Heiligen Land Tirol selbstverständlich näher an der unteren Grenze. Über den
Charakter oder das Verhalten des Kindes ist damit natürlich noch nichts gesagt,
aber das hat Menschen selten davon abgehalten, die Bedeutung von Wörtern zu
vermengen. Besonders im oberen Vinschgau wird noch heute, wenn auch selten, der
Ausdruck „Pånkert“ verwendet. „Pånkert“ geht auf das mittelhochdeutsche
„banc-hart“ zurück und bezeichnet ein Kind, das unehelich auf der harten Schlafbank
einer Magd gezeugt wurde und nicht im Ehebett des Hausherrn.
Höchstwahrscheinlich lässt sich der Ausdruck sogar zur indogermanischen Urform
„be-kerdha“ mit der Bedeutung „außerhalb der Familie“ in Beziehung setzen.
Damit haben wir gleich mehrere Gründe für eine Bedeutungsveränderung. Wer
außerehelich und auf einer harten Bank statt in einem weichen Bett gezeugt
wurde, kann kein tadelloser oder angenehmer Mensch sein. Aus diesem Grund wird
im Vinschgau „Pånkert“ auch weniger dafür verwendet, einen illegitimen
Abkömmling zu benennen, sondern als Scheltwort für ein unfolgsames, ungestümes
oder sogar grobes Kind: „A wildar Pånkert, dr Hias!“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (4)
Die
Vinschger Saga (Erster Teil)
Der Håns-Sepp und seine „Runggunggung“ Mena –
eine lange und nicht immer angenehme Geschichte. Das „Fångeisn“ an der rechten
Hand als Zeichen ihrer ehelichen Verbundenheit wird oft zum heißen Eisen. Wenn
der Haussegen schief hängt, werden schon einmal Kleinigkeiten aufgebauscht und
Unzulänglichkeiten mit in zweifacher Hinsicht treffenden Ausdrücken breit
getreten. Mena ist ohnehin im ganzen Dorf bekannt für ihre Schimpftiraden: „Du
Grianggeter, Hålbzoch, Hinterlåndtachiniërer!“ Aber auch Håns-Sepp schießt mit
verbal scharfer Munition: „Du Gragg, dozamool bisch no a Graatschl geweïsn, a
Zarggele, haint bisch a Funzl, a Gongga, a Houzn und a Lämpereïb und a Ploudra
dazua, dass es lai woasch!“ Natürlich war es von Håns-Sepp nicht gerade
vorsichtig, seine Mena darauf anzusprechen, dass sie in den letzten Jahren an
Gewicht zugelegt hat und keiner Beschäftigung lieber nachgeht als dem
Tratschen. „Du Plescher! Du bisch wia dein Vootr, a Kopfundorschpinggl und a
Låamsiader!“ Damit hatte sie seinen wunden Punkt getroffen. Angesprochen auf
seine geringe Körpergröße und mit dem Vorwurf des Langweilertums konfrontiert,
holt er zum ultimativen Schlag aus: „Treibkiibl, Schmeïrhaufn, Nudlsaich, du
räarata Riiblraschp!“ Aber Mena hatte immer das letzte Wort: „Deïs isch zuviel,
Håns-Sepp, du pagschiiriger Piaschtturt!“ Und die Moral von der Geschicht’:
Wenn es nicht diese groben Bezeichnungen sind, die den Dialektsprechern in den
Kopf kommen, werden es andere sein.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (3)
„Deïs
isch a poor Pfinzta he ...“
Manchmal ist die sprachliche Herkunft
dialektaler Ausdrücke nur mehr für den Experten erkennbar. Wer würde schon
vermuten, dass aus dem Griechischen „pempte hemera“ das allseits bekannte, aber
leider immer weniger gebräuchliche „Pfinzta“ wurde? (Oder aus dem
mittelhochdeutschen „erge-tac“ unser „Eïrta“?) Der erwähnte griechische
Ausdruck bedeutet nichts anderes als „fünfter Tag“. Wer aber nachzählt, wird
feststellen, dass der Donnerstag nicht der fünfte, sondern der vierte Tag der
Woche ist. „Pfinzta“ geht noch auf die Zeit zurück, in der – gemäß der jüdisch-christlichen
Tradition – die Woche mit dem Sonntag begann. Dass der Montag den Wochenbeginn
markiert und so den Donnerstag zum vierten Tag der Woche macht, wurde erst im
letzten Viertel des 20. Jahrhunderts festgelegt und ist mittlerweile sogar eine
internationale Norm (ISO 8601). Dies erklärt noch nicht wie das „pempte“ zu
„Pfinzta“ wurde. Es ist dieselbe sprachliche Entwicklung, die wir auch beim
Wort „Pfingsten“ beobachten können. Letzteres geht auf das griechische
„pentekoste“ bzw. gotische „paintekuste“ zurück, das im Rahmen der arianischen
Mission zu den Germanen und damit in unseren Kulturraum gelangte. Durch die
zweite Lautverschiebung wurde dann aus dem „p“ ein „pf“. Das ist aber schon
lange her. Oder wie man im Vinschgau sagt: „Deïs isch a poor Pfinzta he ...“
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (2)
„Gschwischtrgschwäafl“
Wer heute seine Cousine heiraten möchte,
braucht dazu keine besondere Genehmigung. Früher hingegen waren die
Vorstellungen der Kirche, wann eine Eheschließung zulässig war, viel strikter.
Das in seiner alten Form bis ins 20. Jahrhundert für alle Katholiken
verbindliche Kanonische Recht sah vor, dass bis zu einer Verwandtschaft 4.
Grades eine Dispens, also eine Verbotsbefreiung beantragt werden musste. Wenn
Brautleute beispielsweise einen gemeinsamen Ururgroßvater hatten – was in
ländlichen Gegenden kaum zu vermeiden war –, galt das schon als Ehehindernis.
Es ist deshalb nahe liegend, dass sich in den Dialekten zahlreiche Ausdrücke
für Verwandtschaftsverhältnisse finden lassen. Wenn der Dialektsprecher in der
Benennung auch nicht immer präzise ist, so ist das Vokabular doch vielfältig,
vor allem wenn es darum geht, Cousinen zu bezeichnen. Neben „Basl“ und „Vettr“
gibt es im Vinschgau einige besonders reizvolle Begriffe. „Gschwischtrkind“
macht deutlich, wer gemeint ist: die Kinder zweier Geschwister, also Cousin
oder Cousine. Bei „Gschwischtrtoune“ sind es schon die Enkel eben genannter
Kinder; wir würden dazu Nachcousin oder Cousin 2. Grades sagen. Und besonders
schön, vor allem weil der Ausdruck nicht einmal in der Standardliteratur
Tiroler Mundartforschung aufscheint, „Gschwischtrgschwäafl“, Cousinen, die noch
weiter entfernt sind. Für eine Heirat bedurfte es trotzdem oft einer
kirchlichen Dispens.
AUSDRÜCKE
AUS DEM VINSCHGAU (1)
„A
stuppas Håamat ...“
Man hört die beiden
Ausdrücke heute mittlerweile kaum mehr: „harwen“ und „stuppen“. Beide beziehen
sich auf Stoffe, die aus Flachs- oder Hanffasern hergestellt werden. Der große
Unterschied liegt allerdings in der Qualität. Das „harwene Tuach“ war ein fein
gewobenes Leinentuch; das Garn dazu wurde normalerweise nur von erfahrenen
Frauen, die schon lange im Spinnhandwerk geübt waren, versponnen. Man hat es
vor allem zur Hemdenherstellung verwendet. Das „Stuppene“ hingegen war von
minderer Güte und bestand aus den kurzen, gröberen und verwirrten Faserstücken.
Werg, so der hochsprachliche Name, wird noch heute als Dicht- und Füllstoff
genutzt. Interessant ist, dass sich der Ausdruck „stuppen“ sprachgeschichtlich
bis ins Mittel- und Althochdeutsche zurückverfolgen lässt und sogar im
Lateinischen und Altgriechischen zu finden ist. Schon im alten Griechenland bezeichnete
„styppeion“ den groben Hanf und der Begriff „styppax“, der Wergverkäufer,
wurde auch als Spottnamen gebraucht. So ist verständlich, dass „harwen“ und
„stuppen“ nicht nur textile Eigenschaften bezeichnen, sondern im übertragenen
Sinn auch für „gut“ und „schlecht“ oder zumindest für „das Bessere“ und „das
Schlechtere“ verwendet wurden. „Liaber a stuppas Håamat as a harwane Årbat“:
Selbst der schönste Arbeitsplatz ersetzt nicht die Heimat.
© 2008-2013 by Christian Zelger