Ausdrücke aus dem Vinschgau
A
Apfäntfrauatoog
Stimmen
wir uns ein wenig auf Weihnachten ein. Die Apfäntzait
wurde früher (auch ohne Dauerbeschallung) wesentlich intensiver erlebt. Man
bereitete sich auf das Weihnachtsfest vor, Rorategehen
am Morgen und Rosenkranzbeten waren an der Tagesordnung. Beides gehörte dazu.
Ein besonderer Tag in dieser Zeit der Erwartung war der Apfäntfrauatoog
(auch Apfäntfrauntoog), der vorige Woche am 8.
Dezember als Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens gefeiert wurde. Ein Tag,
der noch heute in mehreren Ländern als gesetzlicher Feiertag begangen wird, so
auch bei uns. Schüler kommen zu einem freien Tag und die Geschäftsleute freuen
sich über Kundschaft in kaum vorstellbarer Quantität aus südlicheren Gefilden.
Zum Apfäntfrauatoog gehörte auch, dass der Pfarrer
den Mädchen und Jungfrauen eine Standespredigt hielt, war dieser Tag doch
besonders ihnen gewidmet. Dabei war der theologische Hintergrund des Festes von
Anfang an umstritten und wird, nebenbei erwähnt, von evangelischen, orthodoxen
und altkatholischen Christen abgelehnt. Im Spätmittelalter diskutierte man, wie
es denn möglich sein konnte, dass Maria als „normaler“ Mensch Teil des
Erlösungswerkes sei. Ganz einfach: Maria selbst wurde ohne Sünde empfangen –
für viele eine wenig überzeugende Lösung. Doch das stört weder den Schüler, der
sich über einen unterrichtsfreien Tag freut, noch den Händler, der seine
Keramikengel an Mann, Frau und Wohnwagen bringt.
D Draist vnd Tait
„Ich
nehme die rote Kreide, Frau Lehrerin, ader?“ An
diesen Satz kann ich mich noch gut erinnern. Ich war in der 1. Klasse der
Grundschule, die damals noch Volksschule hieß, und einem meiner Mitschüler,
nennen wir ihn Ivan, ist hier ein kleiner sprachlicher Fehler unterlaufen. Für
viele Kinder, damals wie heute, beginnt der engere Kontakt zur Hochsprache erst
mit dem Eintritt in die Schule. Die Unsicherheit, nun plötzlich Schriftsprache
sprechen zu müssen, zeigt sich hier in dem Wörtchen „ader“.
Eigentlich wollte Ivan „oder“ sagen, aber er glaubte, einem dialektalen „ou“ müsse immer ein hochsprachliches „a“ entsprechen. Für
einige Fälle gilt dies tatsächlich; denken wir nur an Toul
und Tal. Ein schönes historisches Beispiel aus dem Vinschgau, das bestens zu dieser
Episode passt, entdecken wir im hinteren Schnalstal,
um genauer zu sein, in einem Pfostenspeicher neben dem Marchegger-Hof.
Dort finden wir einen über vier Wände geschriebenen Gebetstext, der
wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert stammt. Egon Kühebacher,
der wohl bekannteste Sprachforscher Südtirols, hat sich 1977 im „Schlern“ damit
auseinandergesetzt. Eine Zeile des Textes wollen wir uns genauer anschauen: TO
PIS MEIN VÖLS VND MEIN STÖRCH UND MEIN DRAIST WEN MIER DER STRENGE TAIT IETS
NIT MER DAN („Du, [Herr], sei mein Fels und meine Stärke und mein Trost, wenn
mir der strenge Tod jetzt nichts mehr tut.“) Der Schreiber hat versucht, ein
ihm dialektal geläufiges Gebet in Hochsprache wiederzugeben. Dazu einige
Anmerkungen. Erstens: Der Schreiber verwendet „TO“ für „Du“, da er nicht immer
zwischen dem harten „t“ und dem weichen „d“ unterscheidet – typisch für den
Dialektsprecher. So werden in Tiroler Dialektwörterbüchern alle Wörter, die mit
„t“ und „d“ beginnen, stets gemeinsam gereiht. Zweitens: Das „PIS“ bedeutet
„sei“ und nicht „bist“, wie man vielleicht vermuten könnte. Der Schreiber
gebraucht hier den mittelhochdeutschen Imperativ „bis“, so wie wir auch heute
noch zahlreiche dialektale Ausdrücke verwenden, die sich aus dem
Mittelhochdeutschen erhalten haben (z. B. Eïrta, gabig, Liismer). Drittens: Bei
„DRAIST“ und „TAIT“ ist dem Schreiber derselbe Fehler wie Ivan in der 1. Klasse
unterlaufen. Ein „åa“ (wie in Tråast
und Tåat) kann hochsprachlich ein „o“, aber auch ein
„ai“ sein (z. B. råat = rot; Påan
= Bein). Irrtümlicherweise nahm er den zweiten Fall an und glaubte, er müsse „Tåat“ mit „Tait“ verhochsprachlichen. Ein wundervolles Beispiel dafür, was
passieren kann, wenn der Dialektsprecher Hochsprache verwendet und unsicher
ist. Und wie sieht es umgekehrt aus? Dazu ein kleines Experiment: Wenn Sie das
nächste Mal eine Apotheke wegen eines Aspirins aufsuchen, verlangen Sie
probeweise Azetiilsaliziilsair. Aber hoffentlich nur
zum „Draist“ und nicht gegen den „Tait“.
E
Eïslheïbm
Es
gibt Bräuche, die – werden sie nicht heute schriftlich festgehalten – in
wenigen Jahren vollkommen in Vergessenheit geraten. Das Eïslheïbm
gehört wahrscheinlich dazu und es wäre schade darum. Der früher unter anderem
in Schlinig, Schleis und Schluderns verbreitete
Brauch kreiste um den letzten Getreidehalm und die letzte Garbe auf dem Feld.
In Zeiten, in denen die Arbeit mühsam und erholende Unterhaltung im Vergleich
zu heute selten war, entwickelten sich eben unterschiedliche Rituale rund um
die Arbeit. In Schluderns zum Beispiel versteckte man
im entferntesten Teil des Ackers eine Flasche mit Rotwein, den man Eïslpluat nannte. Wurde nun der letzte Getreidehalm
abgeschnitten, strich einer der Schnitter mit dem Wetzstein über den
Sichelrücken und erzeugte so einen schrillen Ton. Das war das Signal für alle,
dass es Zeit war, das „Eselblut“ zu trinken. Oder
anderenorts: Wenn auf einem Feld nur mehr wenige Halme standen, erschallte die
Aufforderung „Iez ränn! Heïb in Eïsl!“ Der Gehilfe, dem
die Aufforderung galt, rannte los und krallte sich an die letzten verbliebenen
Halme. Die anderen folgten ihm. Standen nun alle um den so genannten Eïslschwåaf, wurde er mit einer schnellen Bewegung
abgeschnitten und der Gehilfe fiel unter großem Gelächter um. Es gab eben weder
RTL noch PRO7.
F
Fäachn
Es
dürfte für niemanden neu sein, wenn ich erwähne, dass in der Wirkung oft ein
großer Unterschied besteht, je nachdem wie (!) ich etwas von mir gebe. Man
denke nur an das Beispiel „Freisetzung von Arbeitskräften“, wenn man damit aber
„Massenentlassungen“ meint. Auch im Dialekt gibt es für eine Vielzahl von
Fällen verschiedene Begriffe, einer davon ist vielleicht neutral, der andere
kann durchaus forscher oder grober sein. Da der Sommer nun endlich den Weg in
den Vinschgau gefunden hat, passt das Wort „Sommersprosse“ gut zum Thema
(wörtlich übrigens im Sinne von „aufsprießender Hautfleck“). Im Vinschgau
verwendet man dafür gerne den Ausdruck „Fäachn“, fast
ausschließlich in der Mehrzahl, da eine Sommersprosse selten alleine auftritt.
Der Ursprung des Wortes liegt im Althochdeutschen: „feh“
bedeutete damals „bunt, verschieden, ungleich, mannigfaltig“. Man kann sich
allerdings auch etwas weniger gewählt ausdrücken und einem netten
sommersprossigen, also „fäachatn“ Gesicht verbal mit
dem Begriff „Fluigaschiss“ nähern. Ein Sommerflirt
wird daraus höchstwahrscheinlich nicht werden.
Fåckatoschg
Mals.
Vor einigen Jahrhunderten. Punkt Mitternacht. Ein Bauer hört aus seinem
Schweinestall hinter dem Haus laute Schreie. Er begibt sich hinaus, um nach dem
Rechten zu sehen und entdeckt seine verstorbene erste Frau, die mit Ruten auf
die Schweine einschlägt. So heftig, dass die armen Schweine entsetzt
durcheinander laufen und versuchen, auf die Wände zu springen. Der Bauer fragt
die Verstorbene, warum sie denn die Tiere quäle und die Angesprochene
antwortet: „Ich habe bei meinen Lebzeiten den Schweinen gegeben, was ich armen
Leuten geben sollte, und kann nur dann Ruhe finden, wenn ich die größte Sau in
meine Gewalt bekomme. Überlass mir freiwillig das Tier, dann will ich
davongehen und nicht mehr wiederkommen.“ Der Bauer übergibt daraufhin der Frau
das Schwein, sie setzt sich auf das verlangte Tier und reitet auf demselben
davon und in den nahen Bach hinein, wo sie damit verschwindet. So weit die „Tatsachen“ nach Johann Adolf Heyl. Das, was
man den Schweinen gemeinhin gibt, wird im Vinschgau als Fåckatoschg
bezeichnet, ein meist aus Küchenabfällen bestehendes Futter. Ob die Frau eher
zu ihrem Seelenheil gefunden hätte, wenn sie die Küchenabfälle armen Menschen
gegeben hätte, sei dahingestellt. Interessanter ist, dass sich der Fåck aus einem althochdeutschen „farh“
entwickelt hat und sich der „Toschg“ als Wort für
Minderwertiges oder Schlechtes sogar im Norwegischen („tosk“)
oder Portugiesischen („tosco“) findet. Verbales
Abwerten scheint universal menschlich zu sein.
Faschaangält
Wir
schreiben das Jahr 2010. Die Anzahl der Menschen, die immer häufiger über das
Internet einkaufen, egal ob es sich dabei um elektronische Geräte, Bekleidung
oder Einrichtungsgegenstände handelt, steigt kontinuierlich. Dabei gibt es ganz
unterschiedliche Verkaufsmodelle (ohne natürlich einen Namen zu nennen, denn
dieser Beitrag wird schließlich nicht durch Produktplatzierung finanziert). Es
ist beispielsweise möglich, die eigenen Waren gegen eine Provision auf einer
Plattform samt Bild und Beschreibung anzubieten und darauf zu hoffen, dass sie
ein Interessierter zu einem angemessenen Preis ersteigert. Ist die Beschreibung
des Produkts in einer Sprache verfasst, die der Interessent nicht versteht, so
übernimmt ein anderer Internetdienst die Übersetzung derselben. Ja, das ist
heute alles möglich, ohne dass ein Mensch eingreift. Blicken wir hundert Jahre
zurück, in das Jahr 1910. Ein Bauer entscheidet, sich auf einem Viehmarkt nach
neuen Kühen umzusehen. Auf dem Markt trifft er auf einen Faschaan,
der sich als Vermittler und Berater anbietet, sich aber auch als Dolmetscher
betätigt und so als Zwischenglied zwischen dem Käufer und dem Verkäufer
auftritt. Die Bezeichnung „Faschaan“ lässt sich
höchstwahrscheinlich auf ein lokales „fascian“ als
Bezeichnung für einen Bewohner des Fassatales
zurückführen. Selbstverständlich sind die Vermittlungs- und Übersetzungsdienste
nicht ganz kostenfrei und der Faschaan bekommt seinen
finanziellen Anteil am Geschäft, womit wir beim dialektalen Ausdruck „Faschaangält“ sind. Es hat sich nicht viel verändert.
Fätzener
Früher
hat man den Oktober als Weinmonat oder Weinmond bezeichnet. Der Vinschgau ist
zwar traditionell nicht als ausgesprochene Weingegend bekannt und auch heute
noch das kleinste Weinanbaugebiet Südtirols, er hat sich aber in den letzten
Jahrzehnten zu einem zunehmend geschätzten Gebiet mit interessanten
Spitzenweinen entwickelt. Die Weingüter befinden sich zu einem großen Teil am
Hang des Sonnenberges, die Böden sind sandig und lehmig und der Humusgehalt ist
gering, weshalb eine künstliche Bewässerung unabdingbar ist. Aber dafür ist der
Vinschgau ohnehin bekannt. Wenn man bedenkt, dass es mittlerweile gut 300
Winzer gibt, mehrere Gemeinden als DOC-Gebiete anerkannt sind und der Vinschgauer Weinbauverein in diesem Jahr sein 30. Jubiläum
feiert, dann kann man von einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte sprechen.
Dass aus dem Vinschgau allerdings guter und auch anderenorts geschätzter Wein
kommt, war nicht immer so. Ganz im Gegenteil. Noch bis in die 70er Jahre des
20. Jahrhunderts hat man hierzulande Wein nur für den eigenen Bedarf angebaut
und der Wein aus Vetzan, der sprichwörtliche Fätzener, war gewöhnungsbedürftig. Manche beschreiben ihn
als einen „eher rauen Burschen“ und böse Zungen behaupten sogar, der Essig, den
man Jesus am Kreuz gegeben hätte, wäre in Wirklichkeit Wein aus Vetzan gewesen. Worin liegen nun die Gründe für den Wandel?
Der Erfindungsreichtum der Vinschger Weinbauern spielt dabei sicherlich eine
genauso große Rolle wie klimatische Veränderungen. Ob sich hinter diesen
allerdings der ultimative Beweis für die Klimaerwärmung versteckt, können
Klimaskeptiker und Erwärmungsgläubige bei einem Glas guten Vinschger Wein
diskutieren.
Fochaz
Der
Schmärznsfraita liegt hinter uns, die Pålmpuschn in Kortsch und Kastelbell sind im Stall verstaut, der Wachapfinzta
und das Juudasfrprännen sind vorbei, die Tauferer schon lange betend von Kreuz zu Kreuz gewandert,
das Heilige Grab ist aufgestellt und mit Åaschterkuuglan
geschmückt, anstelle der Glocken (die in Rom weilen) hat man in vielen Dörfern
die Ministranten mit ihren Ratschen vernommen, kurzum, die Åaschterwärbwoch
ist Vergangenheit. Je näher man dem Osterfest kommt, desto dichter wird das
Brauchtum und desto reichhaltiger die Tradition. „Es ist für den sinnlichen
Menschen darum so wichtig, dass er durch Sinnliches zum Übersinnlichen erhoben
werde“, hat Pater Lorenz Leitgeb schon 1905 dazu geschrieben. Doch es gibt auch
profanere Bräuche rund um das Osterfest. Ein beliebtes Kinderspiel zum Beispiel
ist das Guffen oder Päckn.
Dabei werden – anfänglich weiße, nicht gefärbte – Eier aufeinandergeschlagen,
zunächst spitzes Ende gegen spitzes Ende, dann sind die flachen Seiten an der
Reihe. Der Besitzer des Eies, das dabei unversehrt bleibt, erhält das
zerbrochene als Siegestrophäe. Nicht vergessen werden sollte schließlich die
Tradition des Fochaz (von lat. focus
= Herd), ein rundes und süßes Brot, das die Kinder von ihren Paten bekommen;
ursprünglich ein runder Laib Brot in Form eines Sonnenrades und dazu noch drei
Eier. Bleibt im Grunde nur mehr eine österliche Frage zu klären: Können
Osterhasen wirklich Eier legen?
Fraithouf
Allerheiligen
steht vor der Tür und traditionell ist damit ein Besuch auf dem Friedhof
verbunden. Dabei wird der Verstorbenen gedacht, die dort – so hoffen wir –
ihren Frieden gefunden haben. Dass der Friedhof allerdings nichts mit Frieden
zu tun hat, dürfte wenig bekannt sein. Besonders im oberen Vinschgau spricht
man gerne vom Fraithouf. Ignaz Zingerle
schreibt in seinen 1850 erstmals erschienenen „Sagen aus Tirol“: „Einmal
schaute der Malser Türmer um Mitternacht auf den Freithof hinab. Da sah er, daß
die Toten aus den Gräbern gestiegen waren und allerlei Tänze aufführten.“ So
beginnt die gruselige Sage des Malser Totentanzes.
Wie wurde nun aber aus dem Fraithouf der Friedhof? Im
Mittelhochdeutschen hatte man den Gottesacker noch „vrîthof“
geschrieben; gemeint war damit ein eingefriedeter (!), also ein begrenzter Raum
vor der Kirche, der für die Toten bestimmt war. Als im 12. Jahrhundert die so
genannte neuhochdeutsche Diphthongierung einsetzte, wurde aus einem langen „i“
lautlich ein „ai“, und damit aus dem vrithof der Fraithouf. Die eigentliche Bedeutung hatte man später
vergessen, so wurde das ursprüngliche „vrit“ als
„Fried“ umgedeutet. Volksetymologie nennt sich dieser Vorgang und tritt oft
dann auf, wenn ein unbekannter Ausdruck nach dem Vorbild eines vertraut
klingenden Wortes angepasst wird. Den Malser Wächter
fand man übrigens – vom Turm geworfen – am Morgen tot auf einem Grab liegen.
Wirklich gruselig!
frrett
Wir
kennen die Situation alle. Zuerst wird einmal gejammert, geschimpft oder
protestiert. Nie und nimmer könne man einverstanden sein und akzeptieren, was
man zutiefst ablehnt. Dies gilt für den durchschnittlichen Alltag ebenso wie z.
B. für Wissenschaft oder Politik. Dass es dann oft ganz anders kommt, sagt eine
Menge über uns Menschen aus – im positiven wie im
negativen Sinne. So werden aus überzeugten Gegnern mitunter glühende Verehrer,
manchmal über die Zwischenstufe der Gleichgültigkeit, manchmal aber auch ohne
diese. Warum man seine Meinung so problemlos radikal ändert, ist eine
faszinierende Frage. Vielleicht ist es so zu verstehen, wie im Falle des deutschen
Politikers Konrad Adenauer, der auf eine plötzliche
und für manchen unverständliche Kehrtwendung sinngemäß geantwortet haben soll
„Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden.“ Noch
bemerkenswerter sind allerdings die sprachlichen Bilder, die wir zur
Beschreibung solcher Situationen verwenden. Der Dialektsprecher kennt (wie so
oft) ein besonders schönes: „A frretts Präatl håt a siaßes
Rantl.“
Fuierschtellar → Pluatschtellar
G
Gäawåadl
Eine
angeschlagene Gesundheit ist unangenehm, aber darüber zu reden, ist eine ganz
andere Angelegenheit – man braucht nur älteren Herr- und Frauschaften
in der Vinschgerbahn zuzuhören, dann bemerkt man,
dass es kaum ein ergiebigeres und dankbareres Thema gibt. Blicken wir ein wenig
in die Vergangenheit. Von allen Organen war besonders die Lunge anfällig für
Infektionen. Die Tuberkulose zum Beispiel ging meist mit einer Abnahme an Körpermasse einher und hieß deshalb auch Auszehrung, Abserbung, Dörre oder Schwindsucht. In Meyers
Konversationslexikon aus dem Jahre 1888 wird als Grund „der Hunger mit all den
düsteren Helfershelfern, dem Mangel an Licht, Luft, Reinlichkeit, guter
Kleidung, Wärme etc.“ genannt. Auffallend an der Lungenschwindsucht ist der
hohl klingende Husten, weshalb sie, fast schon lautmalerisch, als „Klumper“ bekannt war, eine Bezeichnung, die übrigens an die
„Klumpra“, eine große Schelle, erinnert. Und wer
stark hustet, der „kriiglt“ auf gut Vinschgerisch. Daneben
plagten Ruhr, Cholera und Typhus die Menschen; in Europa ist die Gefahr heute
jedoch weitgehend gebannt. Alle drei Krankheitstypen werden in der Regel von
Durchfall begleitet, wofür es im Vinschgau neben „Durchfiar“
einen originellen und wesentlich plakativeren Ausdruck gibt: „Gäawåadl“. Wer an der „Gäawåadl“
leidet, der sollte nicht zögern, sondern „schnell gehen“, damit er es noch
rechtzeitig an den Ort der Erleichterung schafft.
gabig
Was
verkehrt, falsch, ungeschickt, launig, eigensinnig, schief, böse, unrecht,
halbverrückt, verrückt oder links statt rechts ist, dafür hatte der
Dialektsprecher schon immer einen ganz besonderen Riecher. Man denke nur an die
häufig benutzten Begriffe „letz“ und „lingg“. Eine heute in vielen Vinschger Orten und
Seitentälern nur mehr selten verwendete Vokabel, die all diese Nuancen wie
keine andere ausdrückt, ist „gabig“. Es handelt sich
hierbei um einen Begriff, der sich, wie viele andere wunderbare
Dialekt-Beispiele, aus dem Mittelhochdeutschen (1050-1350) erhalten konnte und
sich auf „abich“ und „ebich“
zurückführen lässt. Dabei kann man, wie der Sprachexperte Johann Baptist Schöpf
in seinem Werk „Tirolisches Idiotikon“ betont, davon
ausgehen, dass die Wörter „abich“ und „gabich“ identisch sind. In manchen Gebieten wird die erste
Variante bevorzugt, in anderen die zweite, manchmal bestehen beide
nebeneinander. Daher finden wir auch in anderen Tiroler Dialekten ähnlich
lautende Ausdrücke; so sagt man zum Beispiel im Passeiertal „gaabe“ – „uane glått, uane gaabe“
bedeutet beim Stricken „eine Masche glatt, eine verkehrt“ – und in Deutschnofen
„eïbi“, um nur zwei Gebiete zu erwähnen. Und deshalb
hat sich jemand auf gut Langtauferisch
eben dann verschluckt, wenn man ihn verärgert sagen hört: „Iaz
isches mr in gabiga Schlunt ouchi ...“
Gåffrawåsser
Manche
Wörter legen eine lange Reise zurück. Im hier vorliegenden Fall beginnen wir
auf der Insel Sumatra in Südostasien, setzen unseren Weg nordwestlich nach
Indien fort, von dort aus nach Persien, dem heutigen schlagzeilengebeutelten
Iran, und Griechenland, der Wiege unserer abendländischen Kultur, und landen
schließlich in Europa mitten in den Alpen. Die Rede ist von Kampfer, auch
Campher geschrieben, oder dialektal Gåffra. In Wasser
angesetzt ergab er das bis nach dem Zweiten Weltkrieg bei Vielen beliebte Gåffrawåsser. Einige Blättchen, die man in der Apotheke
kaufen konnte, wurden mit Wasser in eine Flasche gegeben und einige Zeit ruhen
gelassen. Je länger das Gåffrawåsser stand, desto
schärfer wurde es. Reich an ätherischen Ölen besitzt es einen
charakteristischen, wohlriechenden, zum Teil aromatisch-holzigen, ja sogar
eukalyptusartigen Geruch. Eingesetzt wurde das Gåffrawåsser
als Durstlöscher, Verdauungsmittel oder auch als Medizin für und gegen alles,
zum Beispiel um den Kreislauf anzuregen. Auf jedem Hof und in jedem Haus war es
zu finden; wer Bedarf hatte, nahm einen Schluck aus der meist allgemein
zugänglichen Flasche. Heute wird es kaum mehr getrunken. Erstens ist ein
häufiges Trinken wegen einiger giftiger Inhaltsstoffe nicht zu empfehlen und
zweitens gibt es ein fast unüberschaubares Sortiment moderner Durstlöscher –
die vielleicht auch nicht immer gesund sind.
Gåtz
Vorige
Woche feierte der Nationalstaat Italien den 150. Jahrtag seiner Gründung. Am
17. März 1861 hatte Vittorio Emanuele II. von Sardinien-Piemont auf Beschluss
des ersten gewählten italienischen Parlaments den Titel eines „König von
Italien“ angenommen. Der Rest ist mehr oder weniger bekannte Geschichte. Dass
dieser (Feier-)Tag nun in Südtirol ganz unterschiedlich aufgenommen wurde,
konnte man in aller Breite und Länge der lokalen Presse entnehmen. Ob man an
den Feierlichkeiten teilgenommen hat, offiziell oder inoffiziell, oder
vielleicht hinter vor- oder weggehaltener Hand über die Waltschen
hergezogen ist, mag an dieser ansonsten doch recht unpolitischen Stelle keine
Rolle spielen. Dass der Volksmund abwertende Benennungen für den Nachbarn oder
den unliebsamen Fremden kennt, dürfte außer Frage stehen. Eine bei uns ohnehin
kaum bekannte und auch sonst nur mehr sehr selten verwendete Bezeichnung für
Südländer im Allgemeinen und Italiener im Besonderen ist Katzelmacher. Der
Begriff hat, entgegen vielfacher Meinung, nichts mit den beliebten Haustieren
zu tun, sondern lässt sich auf das spätlateinische „cattia“
zurückführen, aus dem sich das deutsche Wort „Gatzel“
entwickelte. Diese hölzernen Schöpflöffel wurden vielfach von italienischen Schnitzern hergestellt und verkauft, wodurch diese eben zu
den Katzelmachern wurden. Das Küchenutensil kennt man auch im Vinschgau. Ein
sehr alter Ausdruck, heute noch am ehesten im Schnalstal
bekannt, ist „Gåtz“ und bezeichnet dort eine
Suppenkelle.
girschtas Prout
Es
gibt eine Zeitschrift, die von Lesern (und Nicht-Lesern!) mitunter als
„vegetarisches Kampfblatt“ bezeichnet wird. Sie setzt sich in fast jeder
Ausgabe mit alternativen Nahrungsmitteln auseinander. Fleisch zum Beispiel
sollte man gar nicht essen, dafür aber Tofu-Würste und Soja-Schnitzel; Zucker
ist ohnehin das Gift par excellence, hier gibt es Abhilfen aus Agaven oder Stevia und auch beim Mehl könnte man seinem Körper Besseres
tun, als ihn mit weißem Weizenmehl zu belasten. Getreidesorten gibt es zuhauf
und dementsprechend sind die Alternativen zum Weizen zahlreich: Roggen, Hafer,
Buchweizen, Mais uvm. Aus Gerstenmehl beispielsweise
ist es durch den sehr geringen Anteil an Gluten sehr schwierig, Brot zu backen.
Das hält einige Überzeugte aber nicht davon ab, es in allen möglichen Varianten
zu versuchen. Dass man damit auch im Vinschgau Erfahrung hat, bezeugen
Ausdrücke wie „girschtas Meïl“
und „girschtas Prout“.
Gemischt mit anderen Mehlsorten verleiht die Gerste dem Brot einen erdigen
Geschmack. Ohne Erde kein Getreide und kein Mehl ... aber muss es gleich
erdiges Brot sein?
glickseeli
Nachdem
Julius Caesar vor gut 2.050 Jahren halb Europa erobert hatte, ärgerte er sich
über das Kalenderchaos in den Provinzen. So verfügte er im Jahre 46 v. Chr.
unter anderem, dass das Jahr nicht wie bisher üblich am 1. März, sondern am 1.
Jänner beginnen muss. Dieser Schritt war zwar bereits früher beschlossen, aber
nicht in die Tat umgesetzt worden. Seltsamerweise vergaß man, die Monate neu zu
benennen, so sind September, Oktober, November, Dezember heute nicht mehr
siebter, achter, neunter, zehnter Monat. Aber das ist eine andere Geschichte.
Rund um den Neujahrstag hat sich ein reichhaltiges Brauchtum entwickelt. So
wurde u. a. in Kortsch, Eyrs
und Tschengls um zwölf Uhr mittags das neue Jahr eingeschellt. Die Kortscher Buben
trafen sich dazu im Oberdorf beim letzten Bauern und beteten das Mittagsgebet.
Dann zogen sie schellend von Hof zu Hof und erhielten dafür Äpfel (die es heute
dort im Überfluss gibt). Auch in Stilfs rückten die
Burschen aus, sangen ein Neujahrslied und erbaten den Segen für das kommende
Jahr, ein Brauch, der auch in Planeil, Matsch,
Lichtenberg und Tannas zu finden ist. Den Kindern gab
man dann Kekse, Krapfen, Nüsse oder ein wenig Geld. „A glickseelis
Nuijoor, s Krischtkindl afn Altoor, di Muatergottes drneebm – Gäa, kanntsch mr it
aa a Kraizerle geebm?“
Griit
In
den 80er Jahren hat sich der ostfriesische Komiker Otto Waalkes
in einem seiner berühmten Sketches mit dem
menschlichen Körper beschäftigt, genauer mit dem, was sich „unterhalb der
Gürtellinie“ befindet. Es war überraschenderweise „das männliche Knie“ – womit
ihm damals die Lacher des Publikums sicher waren. Was sich aber tatsächlich
unmittelbar unter der Gürtellinie befindet, dafür hat der Vinschger ein eigenes
Wort: „di Griit“. Die bekannten Autoren, die sich mit
Dialekten auseinandersetzen, definieren sie wie folgt: „Winkel, den die
Oberschenkel bilden“ (Schatz), „Becken“ (Kaserer),
„Genitalbereich, wo die Hosenbeinstränge zusammenlaufen“ (Thöni), „die
auseinandergespreizten, eine Gabel bildenden Schenkel“ (Schöpf), „Schritt“
(Lanthaler) und „Grätsche“ (Gruber). Zurückzuführen ist der Ausdruck auf das
mittelhochdeutsche „griten“ für „Beine
auseinanderspreizen“. Rund um dieses Stammwort lässt sich eine ganze
Wortfamilie finden. Zum Beispiel gibt es ein passendes Verb dazu, es heißt „griitn“ und bedeutet „breitbeinig gehen“, „o- oder x-beinig
gehen“, „beschwerlich gehen“. Ebenso zu dieser Wortfamilie gehören die
Ausdrücke „Griiter“ für eine Person, die
Schwierigkeiten beim Gehen oder als „årmer Griiter“ ganz allgemein Probleme hat, die
Verkleinerungsform „Griiterle“ wird gerne für einen
Knaben oder ein Kind verwendet und die „Hintergriit“
ist ein netter, umschreibender Ausdruck für das Hinterteil. Und am Ende haben
wir sogar eine Wendung im Angebot. Der eingangs erwähnte Otto und seine Späße
sind mittlerweile auch in die Jahre gekommen und irgendwann wird es dann
heißen: „Deer drgriitats aa nimmer!“
Gschwischtergschwäafl
Wer
heute seine Cousine heiraten möchte, braucht dazu keine besondere Genehmigung.
Früher hingegen waren die Vorstellungen der Kirche, wann eine Eheschließung
zulässig war, viel strikter. Das in seiner alten Form bis ins 20. Jahrhundert
für alle Katholiken verbindliche Kanonische Recht sah vor, dass bis zu einer
Verwandtschaft 4. Grades eine Dispens, also eine Verbotsbefreiung beantragt
werden musste. Wenn Brautleute beispielsweise einen gemeinsamen Ururgroßvater
hatten – was in ländlichen Gegenden kaum zu vermeiden war –, galt das schon als
Ehehindernis. Es ist deshalb nahe liegend, dass sich in den Dialekten
zahlreiche Ausdrücke für Verwandtschaftsverhältnisse finden lassen. Wenn der
Dialektsprecher in der Benennung auch nicht immer präzise ist, so ist das
Vokabular doch vielfältig, vor allem wenn es darum geht, Cousinen zu
bezeichnen. Neben „Basl“ und „Vettr“
gibt es im Vinschgau einige besonders reizvolle Begriffe. „Gschwischterkind“
macht deutlich, wer gemeint ist: die Kinder zweier Geschwister, also Cousin
oder Cousine. Bei „Gschwischtertoune“ sind es schon
die Enkel eben genannter Kinder; wir würden dazu Nachcousin oder Cousin 2.
Grades sagen. Und besonders schön, vor allem weil der Ausdruck nicht einmal in
der Standardliteratur Tiroler Mundartforschung aufscheint, „Gschwischtergschwäafl“,
Cousinen, die noch weiter entfernt sind. Für eine Heirat bedurfte es trotzdem
oft einer kirchlichen Dispens.
Guldanåmp
Lassen
wir für einen Moment die Christkindlmärkte, den klebrigen Glühwein, die Scharen
von Touristen und das unvermeidliche „Last Christmas“ beiseite (wenn es doch
wirklich das letzte Weihnachten wäre, an dem dieses Lied die Gehörgänge
verstopft). Der Advent, vom lateinischen „adventus“
(Ankunft), ist – wie der Name schon sagt – die Zeit, in der sich die Menschen
auf die Ankunft des Herrn vorbereiten. Da diese Zeit schon seit jeher einen
herausragenden Stellenwert im Leben der Gläubigen eingenommen hat, wundert es
nicht, wenn die Mutter Kirche mit einer Vielzahl von Besonderheiten für ihre
Schäfchen aufwartete und so zahlreiche Bräuche initiierte, die zum Teil heute
noch gepflegt werden. Dazu gehört u. a. das Guldanåmp
(auch „guldane Åmp“ oder „Änglåmp), eine Frühmesse, die in der Adventszeit morgens um
5 oder 6 Uhr gelesen wurde und, wie konnte es anders sein, für die Kirchgänger
mehr galt als eine normale Messe. Deshalb wurde dieses Amt auch als golden
bezeichnet. Damit reiht sich der Begriff bestens unter seine sprachlichen und
kulturellen Verwandten ein: Die Goldene Messe (wenn sie besonders feierlich und
festlich ist), das Goldene Jahr (wenn es ein herausragendes Jubeljahr ist), das
Goldene Fasten und natürlich der Goldene Sonntag – da sind wir wieder bei Christkindlmarkt,
Glühwein und „Last Christmas“.
Gutterle → Pitterle
H Hoobergåaß
Der
Schrei ist unheimlich; er geht durch Mark und Bein; und man hört ihn stets in
nächtlicher Dunkelheit. Kein Wunder, dass dadurch oft gespenstische Gedanken
ausgelöst werden. Urheber dieses akustischen Schreckens ist ein Nachtvogel, der
im Volksmund Hoobergåaß genannt wird. Je nachdem,
welche Quelle man konsultiert, ist damit ein Uhu, eine Eule oder ein Waldkauz
gemeint, aber wahrscheinlich sind alle drei Zuordnungen korrekt. Es gibt
allerdings noch eine andere Bedeutung. Lassen wir zunächst die Gåaß beiseite, dann bleibt immerhin noch der Hoober. Der Dialektsprecher bezeichnet damit den Hafer –
das „b“ anstelle des „f“ stammt noch aus dem Mittelhochdeutschen (mhd. haber). Während man den Roggen als Brotgetreide verwendete,
war der Hafer typisches Futter für das Vieh. Der Hafer verweist damit ins Reich
der Tiere, im Volksglauben aber auch an den Anfang des Ackerbaus und somit in
heidnische Zeiten. Die sagenhafte Hoobergåaß muss wohl
als ein Vegetationsdämon entstanden sein und wurde erst später zu einer Spuk-
und Schreckgestalt herabgestuft. Auch von der äußerlichen sprachlichen Form hat
sie eine interessante Wandlung durchgemacht. Ursprünglich war sie eine „caper-Geiß“, also eine Bocksgeiß. Erst eine
volksetymologische Umdeutung hat daraus die Hoobergåaß
gemacht, wodurch eines der ersten zahmen Haustiere mit dem oft als europäischen
Urgetreide bezeichneten Hafer verknüpft wurde. Wie auch immer: Eine Hoobergåaß zu sehen, gilt vielfach als böses Omen. Ob ein
schrill schreiender Vogel im Dunkeln oder eine zwittrige, dreibeinige Bocksgeiß
furchteinflößender ist, sei jedem Leser selbst überlassen.
K
Kaiwärch
Süd-Tirol
ist nicht Italien. Schluderns ist nicht Schlanders. Langtaufers ist nicht Indien. Oder doch? Den ersten
Wahlspruch finden wir immer wieder auf Aufklebern und Plakaten über das ganze
Land verteilt, der zweite ist eine Parodie auf den ersten und kursiert
regelmäßig im Internet, doch was hat es mit dem dritten auf sich? Im genannten
Tal, das heute auch als Tschunglai bekannt ist, hören
wir noch ab und zu den schönen, alten Dialektausdruck „Kaiwärch“.
Gemeint ist damit ein ungebührliches, oft sogar anzügliches Verhalten
(besonders typisch in der ermahnenden Wendung „Tiat
et Kaiwärch traibm!“).
Woher kommt aber der Ausdruck? Einen Hinweis könnte uns nicht zum ersten Mal
das Alemannische liefern. Dort wird „gehei“ bzw. „kei“ für etwas Ärgerliches, Verdrießliches verwendet.
Dieses Wort lässt sich vom Mittel- und Althochdeutschen über das Griechische
bis zur heiligen indischen Sprache Sanskrit zurückverfolgen. So schnell kommt
man vom „Toul“ nach Indien.
Kalfåkter
Dialekte
sind wunderbar. Wer sich damit beschäftigt – nicht nur mit der eigenen Mundart,
die unsere tatsächliche Muttersprache ist –, lernt immer wieder Neues. Es ist
ein Blick in die Zukunft unserer Sprache, wenn man feststellt, welche Ausdrücke
leider nicht mehr verwendet und zum Teil auch gar nicht mehr verstanden werden.
Gleichzeitig ist es immer auch ein Rückblick auf unsere Vergangenheit. Walther
von der Vogelweide ist allen als bedeutender Lyriker des Mittelalters bekannt.
In vielen dialektalen Ausdrücken überlebt seine Sprache, das
Mittelhochdeutsche, das in so vielen Dialektwörtern zu finden ist. Einen ganz
anderen Fall haben wir mit dem Vinschger Ausdruck „Kalfåkter“
(oder „Kolfåkter“). Durch ihn wird ein Taugenichts,
auch ein schmutziger Mensch bezeichnet, mitunter ein ungezogenes Kind. Der
Ursprung des Wortes liegt hier im Lateinischen: „calefactor“
hat die Bedeutung „Heizer“. Kaum bekannt sein dürfte, dass es für Hilfskräfte
das hochsprachliche „Kalfaktor“ gibt. Dieser Ausdruck wird bei uns in der
Schriftsprache nicht verwendet – im Dialekt hoffentlich noch lange.
kåntrawaltsch
Heute,
am 8. Mai, vor genau 68 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Es war
der blutigste, brutalste und menschenverachtendste Krieg, den die Erde je
erlebt hat. Etwa 55 Millionen Todesopfer galt es zu betrauern, darunter
Millionen, die einfach anders waren, die nicht dazugehören sollten. Der Mensch
hatte schon immer Schwierigkeiten mit dem Fremden und dem Anderen. Das zeigt
sich selbstverständlich auch in der Sprache, vielleicht sogar vor allem in der
Sprache. Auch wir leben in einem Land, in dem es viele „Andere“ gibt, zum
Beispiel die „Waltschn“. An und für sich ist der
Ausdruck (von ahd. walhisc) neutral, bezeichnet er
doch lediglich die romanische, in diesem Fall italienische Bevölkerung. Der
negative Beigeschmack, den das Wort im Laufe der Zeit bekommen hat, zeigt sich
gleich in mehreren Zusammensetzungen: Wenn jemand durch und durch italienisch
ist, dann ist er „schtockwaltsch“ (was nicht als
Kompliment gemeint ist); versteht man sein Gerede kaum, dann spricht er „krautwaltsch“ und wenn etwas nicht mit rechten Dingen
zugeht, dann ist es sogar „kåntrawaltsch“.
kaschtigaarn
Auch
wenn wir glauben, in (und mit) deutscher Zunge zu sprechen, um es etwas
pathetischer auszudrücken, so ist unsere Sprache doch ein unendlich
vielfältiges Mischmasch. Wer sich über das Schlamassel in der italienischen
Politik aufregt, spricht Jiddisch; wer an einem knappen Bikini Gefallen findet,
verwendet ein polynesisches Wort und diejenige, die nun im Herbst ihren Bikini
gegen einen warmen Schal tauscht, tut dies mit einem persischen Begriff. Wieso
sollte dies im Dialekt anders sein? Auch im Vinschgau finden wir diese
Vielfalt. Neben den bekannten Überbleibseln aus dem Alt- und
Mittelhochdeutschen sind das Lateinische („ålb“),
Griechische („Pfinzta“), Rätoromanische („Glatsch“), Alemannische („Gluuf“),
Jenische („horzn“),
Französische („Paraplui“) und Italienische („Kapaari“) ergiebige Quellen. Das schöne „kaschtigaarn“ mit den Bedeutungen „plagen“, „quälen“ oder
„in die Enge treiben“ lässt sich ebenfalls auf ein italienisches Wort
zurückführen, in diesem Fall „castigare“. Wenn also
jemanden die Flöhe plagen, sagt man hier am besten: „Di Fläach
hooman schäan kaschtigaart!“
Ketter
Der
Ketter (Homo super-venostanus)
ist im oberen Vinschgau zwischen dem Långkraiz und
Reschen heimisch und gedeiht dort seit vielen Jahrhunderten. Sein Lebensraum
ist geprägt von einem durch Sedimentablagerungen entstandenen Schwemmkegel, der
als größter der Alpen gilt, und durch zwei Seen. Der Boden ist fruchtbar und
wird von diesem vorwiegend landwirtschaftlich genutzt. Der Ketter
ist seit jeher von lebhaftem Temperament, stattlichem Aussehen und mit einer
außerordentlichen Portion Traditionsbewusstsein ausgestattet. Zudem besitzt er
ein originelles Verhältnis zur Wahrheit. Besonders in früheren Zeiten ernährte
er sich am Morgen in erster Linie von Kaffee und Riibl.
Er unterscheidet sich von den südlicher wohnenden Unterarten des Homo venostanus unter anderem in der Verwendung des Wortes
"kett" (eigentlich "ghett") für das Partizip Perfekt von
"haben", woher sein Name rührt, was einen Austausch mit dem
alemannischen Sprachraum nahelegt. Wenn ein anderer Ketter das Zeitliche segnet, kommentiert er das
gerne mit Sätzen wie „Deïr håt
aa laimer Ermatai kett!“
Kirchatuurn
Dass
mit Kirchatuurn ganz einfach ein Kirchturm gemeint
ist, dürfte keinen Leser erstaunen. Und dass das „n“ am Ende des Dialektwortes
ein Überbleibsel des mittelhochdeutschen „turn“ für Turm ist, dürfte ebenso
wenig überraschen. Immer wieder wurde an dieser Stelle auf diese zwischen 1050
und 1350 gesprochene Sprachstufe des Deutschen hingewiesen. Eine erwähnenswerte
Geschichte, in der ein Kirchturm eine zentrale Rolle spielt, betrifft
Latsch. An einem Sonntag kamen die
Bauern des Ortes zusammen, da der Bürgermeister etwas Wichtiges zu verkünden
hatte. Auf dem Kirchturmdach würde das herrlichste und üppigste Gras wachsen.
Da es sich dabei um Gemeindegrund handle, solle man darüber beraten, wie das
Gras zur Fütterung verwendet werden könne. Mehrere Vorschläge wurden gemacht
und ebenso schnell wieder verworfen. Allgemein wurde jedoch bezweifelt, dass
sich jemand finden lässt, der aufs Dach steigt und das Gras mäht. Zu groß sei
die Gefahr. Doch dann hatte Josefs Sohn Michael, vulgo Seppmuch,
eine zündende Idee: Man solle einen Stier mit einem Flaschenzug auf das
Kirchendach hieven. Gesagt, getan. Dem Stier wurde ein Strick um den Hals
gelegt, er wurde hinaufgezogen, als er aber oben ankam, schien er wenig
Begeisterung für die saftige Mahlzeit zu zeigen. Man ließ ihn verwundert wieder
herunter und bemerkte, dass der Stier nicht mehr lebte. Man hatte ihn
stranguliert. Doch die Latscher sind mit ihrem
Missgeschick nicht allein. Eine ähnliche Geschichte wird auch über die Bewohner
der Nordtiroler Orte Uderns,
Karres und Pill erzählt.
Klaubauf
Der
Ausdruck in der Titelzeile passt sowohl zum Abschlussfest nach der Apfelernte,
als auch zum Krampus. Bleiben wir schon aus Gründen
der Aktualität bei der zweiten Bedeutung. Das Brauchtum rund um den Nikolaus
ist im Vinschgau sehr reichhaltig, zum Beispiel in Stilfs,
Langtaufers und Mals, um nur drei Orte zu nennen. Der
Krampus tritt – im Unterschied zu dem bei uns nicht
gebräuchlichen Knecht Ruprecht – meist in größeren Gruppen auf und gehört zum
alpenländischen Adventsbrauchtum mit langer Tradition. Einige Historiker, und
damit werden sie nicht ganz falsch liegen, führen den Brauch auf heidnische
Zeiten zurück, vielleicht sogar keltischen Ursprungs. Wer zwischen lautes
Schreien, Kettenrasseln und Schellenläuten gerät, kann sich durchaus in lang
vergangene, finstere Zeiten zurückversetzt fühlen. Noch ein anderer Gedanke: „Daß man für uns den heiligen Niklas oder, besser, den mit
dem heiligen Niklas wandernden »Klaubau« als
Furchtmittel bei der Erziehung angewendet, will ich nicht allseitig loben. Aber
eine Erziehung ohne Furchtmittel gibt es nicht, und gewiß
gibt es kein besseres Betragen vor Gott sich verantwortlich zu machen!“,
schreibt der Geistliche Lorenz Leitgeb vor etwa 100 Jahren. Man stelle sich
vor, welche Reaktionen diese Aussage – heute als Leserbrief in einer lokalen
Tageszeitung veröffentlicht – auslösen würde. Verbitterte Befürworter auf der
einen Seite, grenzenlos aufgeklärt Scheinende auf der anderen. An einer echten,
respektvollen und konsensorientierten Diskussion sind beide Lager nicht
interessiert. Das riecht nach Arbeit für den Klaubauf!
Knapperle
Es
ist für mich eines der schönsten Vinschger Wörter und in der Wendung „a
Knapperle täan“ auch eines der wohltuendsten – und
nötigsten. Hektik treffen wir an allen Orten; Geschäfte, die nicht durchgehend
geöffnet haben, verlieren Kunden und Vieles, das in der Vergangenheit in den
Medien verbreitet wurde, deutet in eine Richtung, die überhaupt keine freien
Geschäftstage mehr akzeptiert. Rubel, Euro und Dollar müssen rollen. Auf der
anderen Seite haben wir „neudeutsche“ Wörter wie „Wellness“ und „Burn-out“ in
unseren Wortschatz aufgenommen, weil wir mit dem ersten das zweite verhindern
wollen. Dabei wird seit kurzem immer öfter Burn-out bei Kindern festgestellt,
weil – man lese und schüttle den Kopf – ihr Terminkalender zu voll sei und sie
zu wenig schlafen. Was machen wir mit unserer Zeit? Die Chinesen haben das
Recht auf einen Mittagsschlaf sogar in ihrer Verfassung verankert. Und an der
Universität Klagenfurt wurde 1990 ein „Verein zur Verzögerung der Zeit“
gegründet. Manchmal geht man mit der Zeit am besten um, wenn man einem Knapperle erlaubt, einfach ein Knapperle zu sein.
Kraanawit
Wenn
man ein Buch kaufen will – der Welttag des Buches wurde eben erst am 23. April
begangen –, so ist es durchaus hilfreich, wenn man die ISBN-Nummer kennt.
Technisch gesehen kein Problem, sprachlich hingegen schon. Wenn man über das
HIV-Virus spricht oder ein Handy mit LCD-Anzeige besitzt, dann liegt übrigens
dasselbe Problem vor. In den drei erwähnten Abkürzungen steckt schon der
nachfolgende Begriff: Das N in ISBN steht für Nummer, das V in HIV für Virus
und das D in LCD für Display, also Anzeige. Ebenso könnte man an dieser Stelle
über Kraanawitholz schreiben. Womit wir endlich beim
Thema wären. Kraanawit (manchmal auch Kraanamit) ist der noch weithin bekannte Ausdruck für
Wacholder. Das genügsame Zypressengewächs kommt meist auf trockenen Böden vor
und wird auf vielfache Weise genutzt. Die Beeren zum Beispiel enthalten zwar
leicht giftige ätherische Öle, werden aber doch zum Aromatisieren von Speisen,
wie Wildgerichten und Sauerbraten, sowie von Spirituosen, wie Gin und
Wacholderschnaps, verwendet. Das schon genannte Kraanawitholz
hingegen wird gerne zum Räuchern genutzt. Sprachgeschichtlich lässt sich der
Begriff auf die Wörter „kran“ für Kranich und „wite“
für Holz zurückführen. Wenn man also von Kraanawitholz,
von Kranichholzholz spricht, begeht man eine unnötige Verdoppelung. Genauso
könnte ich am Bancomatschalter meine PIN-Nummer
vergessen.
Kuntrawant
„Ihr Toren, die Ihr im Koffer sucht! / Hier
werdet Ihr nichts entdecken! / Die Contrebande, die
mit mir reist, / Die habe ich im Kopfe stecken.“ So schreibt
der deutsche Schriftsteller und Journalist Heinrich Heine 1844 in seinem
köstlich-satirischen Werk „Deutschland – Ein Wintermärchen“. Mit den erwähnten
Zeilen nimmt er die preußischen Zollkontrolleure aufs Korn, die ihn filzen und
Schmuggelware in seinem Gepäck suchen, dabei befindet sich das Verbotene und
wirklich Gefährliche – sein kritischer Geist – allein in seinem Kopf. Mit dem
Schmuggeln kennt man sich auch im Vinschgau bestens aus. Allerdings wurde hier
vor allem Profaneres über die Schweizer Grenze geschleust, zum Beispiel
Zigaretten, Kaffee und Saccharin. Ganze Generationen haben damit ihren
Lebensunterhalt verdient. Im Vinschgau ist dafür der Ausdruck „Kuntrawant“ bekannt, der sich auf das italienische „contrabbando“ für „Schmuggel“ zurückführen lässt. Schauen
wir, wie es mit der Eurozone, den Spritpreisen und der Meinungsfreiheit in
Europa weitergeht. Vielleicht wird das Schmuggeln wieder einmal richtig
interessant.
L
Laitpitten
Es
wird noch einige Zeit vergehen müssen, bis der Schockzustand, in den das Tal
und das Land durch das tragische Zugunglück geworfen wurden, überwunden ist.
Kaum jemand, der nicht einen persönlichen Bezug zum Unfall hat – und wenn es
„nur“ darum geht, dass man jemand kennt, der zufällig nicht im Zug saß oder mit
dem Schrecken davon gekommen ist. Ausgerechnet die Latschånder,
diese wunderschöne, sagenumwobene Klamm zwischen Kastelbell
und Latsch, die als Grenze zwischen Unter- und Mittelvinschgau
gilt, wird von nun an unweigerlich mit dem Unglück verbunden sein. Der Tod war
immer ein allgegenwärtiger Begleiter des Menschen und das Brauchtum, das sich
deshalb rund um das Sterben entwickelt hat, war und ist sicherlich eine Hilfe,
mit der Trauer fertig zu werden. In Taufers im Münstertal gibt es den Brauch
des „Laitpittens“. Stirbt eine Person, sorgen die so
genannten „Laitpitter“ dafür, dass die Nachricht
verbreitet und der Zeitpunkt des Begräbnisses bekannt wird. Außerdem kümmern
sie sich um die nötigen Helfer bei der Beerdigung. Diese Laitpitter
waren in der Regel weiter entfernte Verwandte, oft bis zum sechsten oder
siebten Grad, also nicht unmittelbar Betroffene, aber gerade in schrecklichen
Momenten wie diesen braucht es eine Gemeinschaft, die zusammensteht
Langasfeïgl
Wer
dreißig Jahre alt ist, der zählt dreißig Lenze, hat also schon dreißig
Frühlinge erlebt. Dabei ist „lenze“ eine Kurzform des mittelhochdeutschen „langez“, einem Begriff, den wir noch heute für die
Jahreszeit nach dem Winter verwenden. Der Weg in den verdienten Frühling ist
oft ein beschwerlicher, wenn man das Wetter der letzten Wochen betrachtet. Für
den Zeitraum der Wochen vor dem 21. März – oder im Falle des heurigen Jahres
dem 20. März – gibt es im Vinschgau zahlreiche Bräuche rund um die letzte Kälte
und die heiß ersehnte Wärme. So war es zum Beispiel in Taufers im Münstertal
üblich, dass die Schulbuben zu Beginn des Monats mit einem Schellenumzug den
Frühling weckten. In Kortsch spielte man zum diesem
Zweck hingegen noch bis zum 1. Weltkrieg das Wilde-Mann-Spiel und in Tarsch bei Latsch war es das Gregorispiel.
Der Feiertag des Hl. Gregor am 12. März war zudem jahrhundertelang ein
Schulfesttag, im Vinschgau hat er sich sogar bis ins 19. Jahrhundert erhalten
können. Beliebt war das Gregorisingen, bei dem Lehrer
und ihre Schüler mit Trommeln und Pfeifen durch das Dorf zogen und die
Veränderungen in der Natur herbeimusizierten. Und wenn dann im Frühling nicht
nur die Vögel auf den Bäumen zwitschern, sondern auch noch die
Nassschneelawinen ins Tal stürzen, dann „singan di Langasfeïgl“.
Långkraiz
Es
ist etwa 22 Meter hoch, der Querbalken misst 9 Meter und es steht auf der Malser Haide. Die Rede ist vom Långkraiz, einer historischen Landmarke im oberen
Vinschgau. Das Kreuz mit dem Kreis und den Befestigungsdrähten ragt einsam im
Gelände empor und markiert die alte Grenze zwischen den Gerichten Glurns/Mals und Nauders. Erwähnt
wird es schon im Mittelalter, seit mindestens 1258 ist es als Zollgrenze
urkundlich belegt. Das heutige Långkraiz ist eine
Nachbildung älterer Exemplare. Immer wieder war es umgefallen und wurde neu
aufgestellt – aber nicht immer an derselben Stelle, wie ein Blick auf Peter Anichs Landkarte von Tirol aus dem Jahre 1774 zeigt. Dort
ist es auf der Höhe des Südufers des Haider Sees an der Straße eingezeichnet.
Doch das Långkraiz hatte nicht nur die Aufgabe
Gerichtsbezirke zu trennen, sondern war mit dem Kreis wohl auch als
Abwehrzeichen gegen böse Mächte zu verstehen, insbesondere gegen die wilde
Jagd, die man für heftige Winde und Schneestürme verantwortlich gemacht hatte.
1648 wurde es wieder einmal neu aufgestellt. Jakob Grafinger,
der damalige Abt des Klosters Marienberg, schreibt: „bin ich auf die hayd geritten, alda man das 56 schuech hohe Großschreuz aufgricht [...] Sein in die 30 Pferd beisammen gewesen.
Nachdem man etwas gestritten, voneinander zochen.“
Larmschtång
Manchmal
steckt der Teufel im Detail. Als Larmschtång
bezeichnet man eine mit Stroh umwickelte Holzstange, die beim Scheibenschlagen
verbrannt wird. Aber der kulturelle Reichtum einer Gegend zeigt sich eben auch
dadurch, dass jeder Ort seine Eigenheiten pflegt und im Detail Identifikation
findet. In Mals zum Beispiel ist die Larmschtång in einer einfachen, ursprünglichen Form ohne
Querbalken zu finden. Wandert man in Richtung Lichtenberg, so erhält sie immer
mehr die Form eines Kreuzes mit seitlichen Stangen. In Prad
gibt es sie mit Querstange und einem Dreieck, das mit der Spitze nach unten
liegt, worin der eine oder andere sogar eine männliche Rune erkennen möchte.
Sie brennt zuerst, ihr folgen die Holepfann und eine
Feuerrad. Im schon erwähnten Lichtenberg besteht sie aus einem hängenden
Trapez, das analog als weibliche Rune aufgefasst werden kann. Detail hin,
Detail her. Man ist sich immerhin einig, dass es sich dabei um uralte
Kultbräuche handelt: Die Feuer, begleitet von Geschrei und Lärm, dienten dazu,
Geister und Dämonen zu verscheuchen. Womit wir wieder beim Teufel wären.
Lergat
„Lergater lergatn Lergat“: Was wie
ein Zungenbrecher klingt, beschreibt einen Vorgang, den man früher in
heimischen Wäldern beobachten konnte. Lergat ist das
Harz der Lärche – auch bekannt als Lärchenterpentin – und der Lergater ist der Lärchenharzsammler. Dazu wurden die
Nadelbäume am Stammansatz angebohrt; hier war der so genannte Lergatpourer gefragt. Die angebohrte Stelle wurde nun mit
einem Holzpflock abgedichtet; so konnte im Inneren des Baumes im Laufe von
Monaten die für Lärchen typische pechartige Flüssigkeit zusammenfließen. Zwei
Mal pro Jahr wurde das Harz gesammelt, im Frühling und im Herbst. Dazu wurde
der Zapfen herausgezogen und die Flüssigkeit in einem Behälter aufgefangen;
hilfreich waren dabei Lergatziacher und Lergatleffl. Da man vom Lergatn
recht gut leben konnte, gab es Wälder, in denen fast jede Lärche angezapft
wurde. So war es nur eine Frage der Zeit, bis man das Anbohren verboten hatte,
zum Beispiel vor über vierhundert Jahren in der Tiroler Landesordnung von 1603.
Wofür hat man nun dieses Lergat verwendet? Es scheint
ein Allzweckmittel gewesen zu sein. Schon Plinius
berichtete von der Zubereitung und der Verwendung von Lärchensalben bei Rheuma,
Gicht und Ischias. Das Lärchenterpentin ist wundheilend, schleimlösend, hustenstillend
und durchblutungsfördernd, wurde als Zugsalbe und zur Behandlung von Furunkeln
und eitrigen Wunden bei Mensch und Tier ebenso verwendet wie zum Schmieren von
Peitschen, als Klebstoff oder als Balsam unter der Bezeichnung „Venezianisches
Terpentin“. Ein Veneziano der anderen Art.
Liismer
„Dära muass ma
chrommi Strömpf lisma“ – ihr muss man krumme Strümpfe stricken, so heißt es
sprichwörtlich im Großen Walsertal, wenn man sagen möchte, dass jemand krumme
Beine hat. Die Walser sind vor etwa 700 Jahren aus dem
westlichen Oberwallis zugewandert und haben sich im heute österreichischen
Bundesland Vorarlberg niedergelassen. Sprachlich ist das deshalb interessant,
weil sie sich dabei ihr Hochalemannisch mehr oder weniger bewahrt haben. Was
hat das alles mit dem Vinschgau zu tun? Der Ausdruck „lisma“
für „stricken“, wie er im eingangs erwähnten Ausspruch verwendet wurde, ist
typisch für die Schweiz, folglich für den alemannischen Sprachraum. Obwohl das Vinschgerische wie alle Tiroler Mundarten zu den südbairischen
Dialekten gehört, finden sich immer wieder eidgenössische Einflüsse, vor allem
im oberen Vinschgau. Bedingt ist dies natürlich durch die geographische Nähe,
aber auch durch die historische Verbundenheit. Das Wort „lismen“
gab es – wie bei so vielen anderen Beispielen – auch schon im Alt- und
Mittelhochdeutschen. Es hätte sich demnach ebenso in anderen Tiroler Tälern
erhalten können. Dass es sich aber im Vinschgau ins Heute retten konnte, hängt
mit der schon erwähnten Nähe zu den Schweizer Nachbarn zusammen. Wenn also ein
Vinschger verzweifelt nach seiner Strickjacke sucht, dann fragt er ganz
einfach: „Wou isch mai Liismer?“
Luggmilch
Auf
den Vinschger Berghöfen, auf denen man weniger Korn angebaut und deshalb auch
weniger Mehl zur Verfügung hatte, entwickelte man alternative „Mehl“speisen. Man konzentrierte sich auf Milch und Butter,
denn sehr fett gekochte Gerichte vermochten auch in geringen Mengen zu
sättigen. Doch es mussten nicht immer Mehlspeisen sein. Beim Buttermachen wurde
der flüssige Rahm in den Butterkübel geschüttet. Nach einiger Zeit prüfte man
die Konsistenz des Rahms mit einem Löffel. Dazu gab man ihn in eine Schale –
und fügte etwas Zucker hinzu, was den Testvorgang sprichwörtlich versüßt hatte.
Das war die Luggmilch oder auch Luppmilch.
Über eine solche Süßigkeit freuten sich nicht nur Kinder. Wenn ein Pfarrer beim
Almauftrieb die Almsegnung vorgenommen hatte, bedankte man sich bei ihm unter
anderem mit Luggmilch. Ob das „Lugg“
auf das Luck des Butterkübels anspielt, an dem der Löffel hing, oder ob mit „Lupp“ ein Gerinnungsmittel gemeint ist oder es noch andere
Erklärungen gibt, darüber scheiden sich die Geister. Fest steht: Mit der Luggmilch beginnen erst die Vinschger Köstlichkeiten.
Luttwärga
Die
Lichtenberger zwischen „Gumps“ und „Seïles“ wurden in
dieser Sprachkolumne bisher sträflichst und zu
Unrecht vernachlässigt. Das soll sich nun ändern. Zuerst aber eine kleine
sprachliche Rundfahrt. Zu einem dickflüssigen Holundersirup, einer so genannten
Holundersulze, sagt man im Vinschgau Luttwärga oder Lattwärga. Sprachlich lässt sich ohne großen Aufwand eine
Verbindung zum hochdeutschen Latwerge feststellen, das jedoch in unseren
Breiten weniger gebräuchlich ist und zudem noch etwas im Detail Anderes
bezeichnet. Mit Latwerge ist nicht unbedingt ein dicker Sirup aus schwarzen
Holunderbeeren gemeint, sondern vielmehr ein stark eingekochtes Mus aus
Zwetschken, Pflaumen, manchmal auch Wacholderbeeren oder Hagebutten. Wir finden
den Begriff selbstverständlich im Mittelhochdeutschen, der sich wiederum aus
dem lateinischen „electuarium“ entwickelt hat.
Darunter verstand man einen zähen Brei aus pulverförmigen Arzneien. Das
lateinische Wort lässt sich übrigens noch mit einem altgriechischen verbinden:
„ekleichein“ bedeutet „auflecken“ oder „auslecken“.
Klingt alles nicht unbedingt appetitlich, wird denn auch die Vinschger Luttwärga oft aus medizinischen Gründen zu sich genommen.
Ganz so unangenehm muss sie aber doch nicht sein, zumindest nicht in
Lichtenberg, denn die dortigen Einwohner – so die Volksmeinung – haben Luttwärga besonders gerne eingekocht und auf ihre Brote
geschmiert. So gerne, dass die Bewohner den Übernamen
„Liachtawärger Luttwärgasiader“
bekommen haben.
M
Maarn
Was
haben englische Spukschlösser mit dem Vinschgau zu tun? Zunächst einmal gar
nichts. Aber ein Schloss, das etwas gelten will, hält sich mindestens einen
Geist. So sollen im Hampton Court Palace in der Nähe von London sowohl die
dritte als auch die fünfte Ehefrau von König Heinrich VIII. umherspuken. Er
selbst wird sich wohl aus dem Staub gemacht haben, um das Gezanke nicht
miterleben zu müssen. Im Althochdeutschen gibt es das Verb „maren“
(verkünden, verbreiten), das wir heute noch im Wort Mär für „Erzählung“ oder
„Nachricht“ erkennen. Im Dialekt verwendet man „maarn“,
wenn sich Tote bei den Hinterbliebenen melden oder sich mit Geräuschen oder
geisterhaften Erscheinungen bemerkbar machen. Spuk hin oder her. Es gibt dafür
auch natürliche Erklärungen, zum Beispiel dass Zugluft sehr tiefe Schwingungen
hervorruft, die Angstzustände auslösen und Stimmen in den Kopf zaubern, die
nicht existieren. Wenn aber zügige Luft in den langen Gängen englischer
Schlösser Halluzinationen hervorrufen kann, dann lässt das den Oberwind in Bezug auf das Maarn
in einem ganz neuen Licht erscheinen.
Muiapfeif
Der
Mai ist jung, gerade einmal ein paar Tage alt, deshalb ist es vielleicht nicht
falsch über einen alten Brauch zu sprechen, der auch im Vinschgau lange
gepflegt wurde: das Schnitzen einer Muiapfeif (auch: Moiapfeif). Ein Tourismusverein beklagt sich auf seiner
Internetseite, dass das Maipfeifchenschnitzen
so gut wie ausgestorben sei, weil sich die Jungen lieber an Computerspielen
halten (oder nachschauen, ob es nun tatsächlich zwei Seiten gibt, die sich mit
dem Schnårfer beschäftigen) und die Alten vielfach
nicht mehr wissen, wie man eine solche Pfeife herstellt. Ganz so schlimm wird
es nicht sein. Zur Auffrischung der Kenntnisse hier eine Anleitung: Man braucht
einen frischen Weidentrieb, gut 10 cm lang und daumendick. Im oberen Viertel
wird eine Kerbe in die Rinde geschnitten. Am unteren Drittel wird die Rinde
einmal rings herum bis auf das Holz eingeschnitten. Mit dem Messergriff wird
nun der obere Teil der Rinde um den Ast weichgeklopft, um sie vorsichtig
abzudrehen. Wo die Kerbe beginnt, wird das Mundstück abgesägt. Von dem
abgeschnittenen Stück wird ein kleiner Span heruntergeschnitten, um dann das
Mundstück wieder in die Rindenhülse zu schieben. Durch Verschieben des unteren
Pfeifenteils beim Hineinblasen können die verschiedenen Töne erzeugt werden.
Geübte Musiker geben auf einer Muiapfeif allerhand
Melodien zum Besten. So könnte man vielleicht die in letzter Zeit ins Gerede
gekommene Hymne einfach instrumental spielen – und das Problem mit dem Text
hätte sich erledigt.
Mutt
Grenzen
gibt es viele. Die Grenzen zu den Grundstücken des
Nachbarn. Die Grenzen des ethisch Tolerierbaren. Die Grenzen des guten
Geschmacks. Auf der anderen Seite leben wir in einer Zeit, in der Grenzen
zunehmend an Bedeutung verlieren. Wer kann sich denn nicht mehr erinnern, wie
es war, als man am Reschenpass noch kontrolliert
wurde oder man auf der anderen Seite mit Lire-Scheinen, die ohnehin nicht viel
Wert waren, noch weniger anfangen konnte? Doch wir wollen uns heute einer
sprachlichen Grenze nähern und uns mit alten Getreidemaßen beschäftigen. Je
stärker sich feudale Strukturen, aber auch der Handel entwickelten, desto
wichtiger wurden die Maße. Obwohl Naturalienabgaben hier seit römischen Zeiten
bekannt sind, stimmen die Getreidemaße nicht mit den römischen überein. Ein Schtaar zum Beispiel entsprach im 16. Jahrhundert einem
Volumen von 31,1 l, die Mutt (von lat. modius) hingegen war 1½ Schtaar
gleichgestellt. Doch so einfach ist die Angelegenheit leider nicht. Beiden
Einheiten wurden zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ortschaften
unterschiedliche Mengen zugeordnet. Oft geschah dies sogar innerhalb eines
Ortes, wenn es sich um verschiedene Getreidesorten handelte – kein Wunder, da
es keine zentrale Normierungsinstitution gab. Immerhin kann man aber genau
angeben, in welchen Gebieten des Tales man die Einheiten verwendete. Die Grenze
verlief ziemlich genau in Prad. Von dort aufwärts
benutzte man die Mutt, von Prad
abwärts das Schtaar. Klare Grenze. Dass manch einer
heute immer noch Grenzen verschieben will, ist allerdings eine andere
interessante Geschichte.
P
Paalapiiragräascht
Was
haben die Türkische, die Augsburger und die Herrenbirne, die Bon Chrétien d’Été und die Strassburgerin, die Sommerapotheker-, Plutzer- und
Zuckerbirne, die Woschitzke, Gracioli
und Pira Crustumia, die Püli-, Bunkerte, Pilli Palli, Katelen-, Malvasier- und Pfundbirne gemeinsam? Aus
allen diesen Birnen kann man typische Vinschger Köstlichkeiten zaubern. Denn
jede einzelne der erwähnten Bezeichnungen steht für die Paalapiir.
Damit ist unser heutiger Ausdruck weit mehr als ein bloßer Begriff, er steht
für ein Stück lokale Identität. Mitte des 18. Jahrhunderts war die Paalapiir auf der Churburg
bekannt, allerdings nicht unter ihrem heutigen Namen, und noch hundert Jahre
früher tauchte sie schon in Florenz auf. Ursprünglich stammte sie aus dem
vorderen Orient und kam wahrscheinlich über den Balkan in unsere Breiten. Ein
langer Weg in den Vinschgau. Ein Graciolifestival,
eine Woschitzkeparty oder ein Bunkertes
Bankett in Glurns? Wohl kaum denkbar. Namen sind mehr
als austauschbare Buchstabenfolgen. Und ein Paalapiiragräascht
ist mehr als ein x-beliebiges Gericht mit Birnen. Mahlzeit!
Pånkert
Wenn
man in einem Taufbuch auf den Hinweis „filius illegitimus“ (oder im Falle eines weiblichen Täuflings „filia illegitima“) stößt, so hat
der Geistliche dadurch festgehalten, dass hier ein uneheliches Kind getauft
wurde. Je nach Gegend lag der Anteil an illegitimem Nachwuchs vor Beginn des
20. Jahrhunderts etwa zwischen 2% und 20% – im Heiligen Land Tirol
selbstverständlich näher an der unteren Grenze. Über den Charakter oder das
Verhalten des Kindes ist damit natürlich noch nichts gesagt, aber das hat
Menschen selten davon abgehalten, die Bedeutung von Wörtern zu vermengen. Besonders
im oberen Vinschgau wird noch heute, wenn auch selten, der Ausdruck „Pånkert“ verwendet. „Pånkert“
geht auf das mittelhochdeutsche „banc-hart“ zurück
und bezeichnet ein Kind, das unehelich auf der harten Schlafbank einer Magd
gezeugt wurde und nicht im Ehebett des Hausherrn. Höchstwahrscheinlich lässt
sich der Ausdruck sogar zur indogermanischen Urform „be-kerdha“
mit der Bedeutung „außerhalb der Familie“ in Beziehung setzen. Damit haben wir
gleich mehrere Gründe für eine Bedeutungsveränderung. Wer außerehelich und auf
einer harten Bank statt in einem weichen Bett gezeugt wurde, kann kein
tadelloser oder angenehmer Mensch sein. Aus diesem Grund wird im Vinschgau „Pånkert“ auch weniger dafür verwendet, einen illegitimen
Abkömmling zu benennen, sondern als Scheltwort für ein unfolgsames, ungestümes
oder sogar grobes Kind: „A wildar Pånkert,
dr Hias!“
Pazlung
Wissen
Sie, womit sich Chasmologen beschäftigen? Man glaubt
es kaum – mit dem Gähnen. Scheint aber weder eine besonders aufregende noch
weit verbreitete Wissenschaft zu sein. Ebenso wenig dürfte die Pemmatologie bekannt sein. Ihr Beschäftigungsfeld ist zwar
genauso alltäglich wie das Gähnen, aber wesentlich attraktiver und
schmackhafter. Wer den Titel dieses Beitrags gelesen hat, kann sich schon denken,
was Pemmatologen sind: Brotforscher. Ein Beispiel.
Die Pazlung (auch: Parzlung,
Pårzlung) ist im ganzen Vinschgau bekannt. Es sind
schmale, längliche oder auch hufeisenförmige Brote. Der Name geht auf das
rätoromanische "pez lonk"
zurück, was "langes Stück" bedeutet. Die Interessen des Brotforschers
gehen natürlich weit darüber hinaus, der Vinschgau ist diesbezüglich sehr
ergiebig: Fourschloogpaarlan, Paalapiiraprout,
Schmålzschnuutn und Vieles mehr. Noch ein Gedanke zum
Schluss. In einer Millionenstadt wie Wien werden jedes Jahr etwa 2 Millionen kg
Brot vernichtet. Vielleicht sollten zukünftige Forschungsmilliarden der Morologie zugutekommen – der Lehre von der Dummheit.
Pfinzta
Manchmal
ist die sprachliche Herkunft dialektaler Ausdrücke nur mehr für den Experten
erkennbar. Wer würde schon vermuten, dass aus dem Griechischen „pempte hemera“ das allseits
bekannte, aber leider immer weniger gebräuchliche „Pfinzta“
wurde? (Oder aus dem mittelhochdeutschen „erge-tac“
unser „Eïrta“?) Der erwähnte griechische Ausdruck
bedeutet nichts anderes als „fünfter Tag“. Wer aber nachzählt, wird
feststellen, dass der Donnerstag nicht der fünfte, sondern der vierte Tag der
Woche ist. „Pfinzta“ geht noch auf die Zeit zurück,
in der – gemäß der jüdisch-christlichen Tradition – die Woche mit dem Sonntag
begann. Dass der Montag den Wochenbeginn markiert und so den Donnerstag zum
vierten Tag der Woche macht, wurde erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts
festgelegt und ist mittlerweile sogar eine internationale Norm (ISO 8601). Dies
erklärt noch nicht wie das „pempte“ zu „Pfinzta“ wurde. Es ist dieselbe sprachliche Entwicklung,
die wir auch beim Wort „Pfingsten“ beobachten können. Letzteres geht auf das
griechische „pentekoste“ bzw. gotische „paintekuste“ zurück, das im Rahmen der arianischen
Mission zu den Germanen und damit in unseren Kulturraum gelangte. Durch die
zweite Lautverschiebung wurde dann aus dem „p“ ein „pf“.
Das ist aber schon lange her. Oder wie man im Vinschgau sagt: „Deïs isch a poor
Pfinzta he ...“
Piaschtturt
Alles
kommt wieder. Die erste Milch nach dem Kalben wird Piascht
genannt; in der Hochsprache gibt es dafür den Begriff „Biestmilch“. Der
Ausdruck, der nichts mit dem abwertenden Wort „Biest“ für „Tier“ zu tun hat,
besitzt eine uralte Geschichte. Er lässt sich über das mittelhochdeutsche
„biest“ und das althochdeutsche „biost“
wahrscheinlich sogar auf den indogermanischen Wortstamm „bhus-ko“,
mit dem unser Begriff „Busen“ verwandt ist, zurückführen. Wo immer der Ausdruck
auch her kommt, früher hat man aus dieser Milch vor allem in
ländlich-bäuerlichen Haushalten einen besonderen Kuchen gebacken – den Piaschtturt. Man versprach sich davon gesundheitliche
Vorteile, da diese Milch das neugeborene Tier in den ersten Tagen optimal
versorgt. Woran das liegt, weiß man mittlerweile natürlich genau, denn die
Biestmilch oder das Kolostrum, wie man sie auch nennt, ist reich an Eiweiß,
Enzymen, Vitaminen, Mineralien, Aminosäuren und Antikörpern. Dass man heute
wieder verstärkt darauf zurückgreift, ist nur eine Folge einer Rückbesinnung,
die man auf verschiedenen Ebenen beobachten kann. So ist diese Milch für
Spitzensportler wie zum Beispiel Triathleten interessant. Wenn man das Internet
durchforstet, wird man schnell fündig. Sie wird in oft sündteuren kleinen
Fläschchen oder auch in Form von Kapseln und Kautabletten angeboten. Auch die
Suche nach einem Rezept für einen Piaschtturt endet
in einer umfangreichen Sammlung verschiedenster Varianten. Wie schon gesagt:
Alles kommt wieder. Auch dieser Satz.
Pitterle
Wodurch
wird die anstrengende Feldarbeit während eines heißen Sommers erträglicher?
Selbstverständlich dadurch, dass man das richtige Getränk stets bei der Hand
hat. Das kleine Holzfass, in dem Wasser, lieber aber natürlich Wein, mit auf
das Feld genommen werden konnte, wird „Pitterle“
genannt. Ein altes bayerisches Nachschlagewerk weiß zu berichten, dass sich
darin „3 bis 6 Maß Flüssigkeiten zum Handgebrauch“ lagern lassen, also gerade
richtig für den Tagesbedarf eines Mähers. Der Ausdruck geht auf das mittelhochdeutsche
„büterich“ zurück, der damals für ganz
unterschiedliche Arten von Flüssigkeitsbehältern verwendet wurde, so zum
Beispiel für einen Krug, einen Weinschlauch und eben auch für ein Fässchen. Im
deutschen Sprachraum gibt es übrigens den Familiennamen Pitterich;
der ursprüngliche Träger dieses Namens muss wohl einen dicken Bauch gehabt
haben, der seiner Form nach an eine rundliche Flasche oder sogar ein Fass
erinnerte. Doch Pitterle ist nicht das einzige
Vinschger Wort, das sich mit Bauchigem in Verbindung bringen lässt. Ein
weiterer interessanter Ausdruck ist „Gutterle“, eine
größere Flasche. Das Wort lässt sich sprachgeschichtlich – wieder einmal – auf
das Lateinische zurückführen. Dort bezeichnet „guttus“
einen enghalsigen Krug und „gutta“ einen Tropfen.
Kein Wunder. Schon die alten Römer wussten einen guten Tropfen zu schätzen.
Pfott → Zoch
Pluatschtellar
Was
würde thematisch besser zur 13. Folge dieser Serie passen, als ein wenig über
den in der Bevölkerung verwurzelten Aberglauben zu sprechen? (Nur über die
Schweinegrippe zu schreiben, wäre momentan aktueller.) Seit jeher hat man
einzelnen Menschen besondere, ja sogar übersinnliche Fähigkeiten zugesprochen.
Eine solche Gabe konnte beispielsweise darin bestehen, Unangenehmes,
Gefährliches oder Zerstörerisches auf- oder von Menschen abzuhalten. Hatte sich
jemand durch Unvorsichtigkeit oder einen Unfall verletzt und blutete stark aus
der Nase oder einer Wunde, so wurde er im Ernstfall zu einem so genannten Pluatschtellar gebracht. Dieser gab ein paar Sprüche und
Gebete aus mehr oder weniger obskuren Quellen zum Besten und – Aberglaube sei
Dank! – das Blut hörte sofort auf zu rinnen. Waren hingegen Haus und Hof durch
einen Brand in Gefahr, war der Fuierschtellar
gefragt. Sobald er vor Ort auftauchte, geheimnisvoll murmelte und deutete,
begnügte sich das Feuer mit dem bisher Verbrannten und verschonte den Rest.
Eine solche übernatürliche Anlage konnte von der damit gesegneten Person
übrigens, auch das ist im Volksglauben verankert, an nahe Verwandte weitergegeben
werden. Praktisch wären solche Kräfte auch im 21. Jahrhundert. Ein paar flotte
Zaubersprüche vom Fåckngrippeschtellar und das
Problem ist gelöst.
R
Råat
Am
24. August wird das Fest del Hl. Bartholomäus begangen. An diesem Tag sollte
nach altem Brauch nicht nur das Gruamat unter Dach
sein (und für den Bauern der Herbst beginnen), sondern es war auch Zeit für das
Partlmeewåsser – eine besondere Råat.
Die Råat bezeichnet das Wasserrecht, aber auch den
zeitlich und mengenmäßig festgelegten Wasseranteil. Diese Wasserrechte, typisch
für den trockenen Vinschgau, sind schon früh schriftlich fixiert worden, einige
Urkunden gehen bis auf das 13. Jahrhundert zurück. So wird der Ausdruck „Råat“ vermutlich aus dem romanischen roda,
rota entstanden sein und auf die Rotation der
Wassernutzung anspielen. Ein wichtiger und geachteter Mann war der Waaler. Er beobachtete den Wasserfluss, wachte über die
Wasserzuteilung am Tag sowie in der Nacht, führte Instandsetzungsarbeiten
durch, verwaltete die Bücher und vertrat die Gemeinschaft bei
Rechtsstreitigkeiten. Um Auseinandersetzungen bei der Zuteilung der Råaden zu verhindern, wurde die Abfolge der
Wasserableitungen oft durch Auslosung geregelt. Dabei wurden aus einem Sack
Holzstäbchen mit den Erkennungsmarken der Höfe gezogen und so die Turnusabfolge
festgelegt. Diese Råaden waren meist eng mit dem Hof
und nicht mit den darauf lebenden Personen verbunden. Wie genau aber die
Bewässerungszeiten auf- und eingeteilt wurden, besonders dann, wenn nur wenig
Wasser vorhanden war, kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht erörtert
werden. Deïs dauert a Räadl.
Radonnt
In
Zeiten zunehmender Globalisierung kann das Lokale schon einmal in Bedrängnis
geraten. Das Ausbügeln von Unterschieden, auch auf sprachlicher Ebene, hat
vielfach wirtschaftliche Gründe. Wer erinnert sich noch daran, dass der
Schokoladeriegel Twix bei uns Raider
hieß? Damit man ihn überall auf der Welt als solchen erkennt (und kauft), hat
man damals eine groß angelegte Umbenennungskampagne gestartet. Ob hier der Verlust
einer Produktbezeichnung zu bedauern ist, sei dahingestellt – ganz anders wäre
das, wenn es sich um Dialektausdrücke handeln würde. Viele Mundartwörter kommen
oft in der einen oder anderen Variante in sehr vielen Tälern, Orten oder
Gebieten vor. Auf der anderen Seite gibt es Ausdrücke, die besonders typisch
für eine Gegend sind. Ein schönes Beispiel ist die Obervinschger
Radonnt (mit bündnerromanischen
Wurzeln) oder auch Ommat. Es handelt sich dabei um
die mit Gras bewachsene Grenze eines Ackers. Der alternative Ausdruck „Ounawont“ ist in veränderter Aussprache weit über Tirol und
darüber hinaus verbreitet. Möge uns demnach die Radonnt
noch lange erhalten bleiben.
Raiter
Es
gibt Wörter, die weder außergewöhnlich klingen, noch auf den ersten Blick den Eindruck
vermitteln, eine besondere Bedeutung zu besitzen. „Raiter“
ist so ein Fall. Wäre mit dem Wort lediglich ein Mensch hoch zu Ross gemeint,
würde man es vielleicht eher in einem Rechtschreibwörterbuch nachschlagen und
wohl kaum im Zusammenhang mit dialektalen Ausdrücken erwähnen. Doch hinter „Raiter“ steckt wesentlich mehr. Zum Beispiel die Pallnraiter, das große, runde Sieb zum Trennen von Heu und
Heublumen. Sieht man es jedoch auf ein Stadeltor oder
auf eine Straße gemalt, so wird man Zeuge eines alten Brauchs. Belegt ist dieser zum Beispiel für Schlinig, aber auch für andere Vinschger Orte und sogar für
Pfunds im Oberen Gericht. Es war am Vorabend einer
Hochzeit üblich, eine stilisierte Raiter an das Tor
des Stadels oder auf die Straße vor dem Heimathaus der Braut oder des
Bräutigams zu malen. Oft ist dies mit Teerfarbe geschehen und ebenso oft wurde
zusätzlich mit Pfeilen oder Sägemehl die Richtung der Verflossenen angegeben.
Wahrscheinlich wollte man damit ein symbolisches Aussieben im Zuge der Partnerfindung
andeuten. Viel Bedeutung für ein einfaches Wort. Und wenn einem nichts mehr
einfällt, wie mir jetzt gerade, dann ist das nicht viel mehr als „a Furz in dr Raiter“. Und ich hoffe, dass
deshalb niemand „räart wi'a
rinnete Raiter“.
Reïdamåcher
Ein
Reïdamåcher ist ein Handwerker, der Räder, aber auch
Holzstiele, Griffe und Schlitten herstellt. Schnitt. Martin Luthers
Veröffentlichung seiner berühmten Thesen im Jahre 1517 gab den Weg frei für
reformwillige religiöse Gruppen. Unter ihren Anführern befinden sich bekannte
Namen wie Münzer, Zwingli und Calvin, aber auch weniger bekannte wie Grebel und Blaurock. Als eine der
Geburtsstunden der (Wieder-)Täuferbewegung gilt die
Taufe Jörg Blaurocks im Jänner 1525 in der Nähe von Zürich. Die Täufer, die u. a.
die Kindertaufe unterließen, sich für eine strikte Trennung von Kirche und
Staat aussprachen, die Obrigkeit ablehnten und die Gütergemeinschaft pflegten,
waren von Beginn an einer massiven Verfolgung ausgesetzt. Aus diesem Grund
zerstreuten sich die Gläubigen schon bald in alle Richtungen, so auch nach
Tirol, wo mit Jakob Hutter ein besonders überzeugter Verfechter wirkte. Auch er
konnte seinen Glauben nicht in der Heimat leben und gründete die „Hutterischen Brüder“ in Mähren. Bereits 1527 beklagte man sich
beim Pfleger zu Glurns und Mals, Jakob Trapp, über
die wiedertäuferischen Aktivitäten von Jörg Blaurock. Immerhin gilt der Vinschgau durch die Nähe zu
Graubünden als eines der Tore, durch das die Täuferbewegung
nach Tirol kam. In Graun, Taufers, Glurns, Schlanders, Kortsch und Kastelbell
beispielsweise gab es Gemeinden, doch die Verfolgung dieser religiös-sozialen
Gruppierungen war hart. Wer nicht widerrief, wurde geköpft, ertränkt oder
verbrannt. Die meisten Gläubigen verschwanden in der Anonymität der Geschichte,
aber immerhin sind im Vinschgau (laut Aufzeichnungen) etwa 100 Personen
bekannt, darunter Paul Schweiggl aus Mals, Jakob Regätsch aus Latsch und der „Reïdamåcher“
von Schlanders.
Russlånt
Als
der vielseitige und stets originelle Tiroler Schriftsteller Felix Mitterer 1990
seine dreiteilige „Piefke-Saga“ ins Fernsehen
brachte, sorgte er nicht nur in Deutschland und unter Touristen für einen
Aufschrei. Er hatte wohl den Nerv der Zeit und den wunden Punkt der Tiroler
selbst getroffen. Auch wenn sich die Serie auf Nordtirol bezog, konnten wir uns
im Süden nicht verstecken. Nun liest und hört man schon seit einigen Jahren,
dass Mitterer an einer Fortsetzung schreibt, doch gilt sein Interesse dieses
Mal nicht bundesdeutschen Besserwissern, sondern finanzstarken Russen. Wann die
von vielen heiß ersehnte "Russen-Saga" endlich ausgestrahlt wird,
weiß man noch nicht. Doch Russlånt ist viel näher als
man glaubt. Ein historischer Ortsteil am Westeingang von Mals
mit zwei romanischen Kirchen trägt ebenfalls diesen Namen. Ob das kalt-windige
Klima oder einquartierte russische Kriegsgefangene Grund für die Bezeichnung
sind, sei dahingestellt. Eine Erkenntnis scheint jedoch sicher zu sein. Denn
wie heißt es mit zwinkerndem Auge so schön: „Lenin, Stalin, Polin – ållz Russn!“
S
Säalamårkt
Märkte
gibt es in unserem Land viele: den Steegamårscht in
Stegen zum Beispiel – übrigens der größte Markt Tirols –, den Kåthreinemårscht in Mühlen, den Josefimårkt
in Salurn, den Markusmårkt
in Auer, den Martinimårkt in Girlan,
den Ultner Mårkt
(selbstverständlich) im Ultental, im Vinschgau
schließlich den Michäalimårkt im Martelltal,
den Låntsproochmårkt in Goldrain,
den Gållimårkt in Mals, ja, und zu Allerseelen
natürlich den Säalamårkt in Glurns.
Begonnen hatte alles im 13. Jahrhundert, als die Grafen von Tirol dem Bischof
in Chur schaden wollten, indem sie dem Markt in Müstair
Konkurrenz machten. Graf Meinhard II. führte damals den Bartholomäus-Jahrmarkt
ein; Glurns war schon zu Römerzeiten ein wichtiger
Verkehrsknotenpunkt und damit ein Ort regen Handelns. Doch der ursprüngliche
Markt verlor im Laufe der Jahrhunderte durch Kriege und soziale Veränderungen
zunehmend an Bedeutung. Das änderte sich allerdings im 19. Jahrhundert, als
Kaiser Ferdinand I. von Österreich einen weiteren Markt einführte, nachdem die Glurnser bei der Innsbrucker Regierung eine Verlegung der
anderen Märkte erbaten. Besonders in den letzten Jahrzehnten hat sich der Säalamårkt als Institution etabliert und wurde so zum
größten und beliebtesten Jahrmarkt im Vinschgau. Kulinarische Leckerbissen
dürfen da selbstredend nicht fehlen, Schweinernes oder Wurst mit Kraut, saure
Suppe, Rindsgulasch mit Knödel, Wildgerichte, aber auch Kastanien und –
keinesfalls zu vergessen – die allseits beliebte Manderlatta.
Särber
Der
Frühling naht langsam, aber stetig. Die Temperaturen steigen, die Natur blüht
auf und viele Menschen ebenfalls. Das Leben ist zurück. So könnte man meinen.
Sterbestatistiken aus vergangenen Jahrhunderten zeigen aber, dass gerade im
März und April – verglichen mit dem restlichen Jahr – besonders viele Menschen
sterben. Eher würde man dies für die kalten Wintermonate vermuten. Eine
mögliche Erklärung dafür ist die Umstellung des Hormonhaushalts, die den Körper
belastet (und auch für die Frühjahrsmüdigkeit verantwortlich ist). Als eine
Todesursache, die früher sehr häufig zu finden war, gilt die
Lungenschwindsucht. Eine von vielen Bezeichnungen dafür ist „Serbe“. Im
Vinschgau kennt man den Ausdruck „Särber“ für einen
kränklichen Menschen, für jemanden, der zwischen Tod und Leben schwebt. Das
Wörterbuch der Gebrüder Grimm gibt uns Auskunft über die Herkunft des
Begriffes: „serben“ steht für „erschlaffen,
ermatten“. Dass die Variante „serbeln“ heute noch in der Schweiz verwendet
wird, zeigt einmal mehr die sprachliche Verbundenheit zwischen der
Eidgenossenschaft und dem Vinschgau.
Schaibaschloogsunnta
Der
Aschermittwoch beschließt die laute Fasnacht und eröffnet die besinnliche
Fastenzeit. In Schnals zum Beispiel läuten die
Kirchenglocken am Fasnachtsdienstag um Mitternacht
die Fasnacht aus. Der darauf folgende Sonntag nimmt eine besondere Stellung im
kulturellen Leben ein. Je nach Gegend gibt es dafür unterschiedliche
Bezeichnungen: Houlerpfånnsunntig im Passeiertal, Kaassunnti im Burggrafenamt und im Vinschgau, vor allem im
oberen Vinschgau, ist es der Schaibaschloogsunnta. In
den Holepfannfeuern, den Hexenfunken und eben auch im
Scheibenschlagen sehen wir die kultischen Schlussfeiern der einstigen Fasnacht,
die sich bis in die heutige Zeit retten konnten. Beda Weber beschreibt dies
wunderbar: „Das Thal gewährt einen zauberischen Anblick, und die einbrechende
Nacht legt sich mit unbeschreiblichem Reitz auf das Flammengewühl. Zuletzt
nehmen die Jünglinge flammende Brände, laufen auf einander los, selbst Gluth umströmt, der Wind facht das Feuer erst recht an.
Wollte man die Raserei wildester Leidenschaft darstellen, so könnte man kein
trefflicheres Bild dafür ausfindig machen.“ Ursprung und Grundzüge sind all
diesen Feuern gemein, im Detail findet man doch von Ort zu Ort Variationen,
beispielsweise im Aussehen der Larmschtång, im
genauen Ablauf oder in den dazu geschrienen Scheibensprüchen: „Hii raim unt
hee raim, fir weïm soll eppar
dia Schaip sain. Dia Schaip isch fir dr
Mena und oi drmit.“
Schiinagglan
Wir
haben bereits im Zusammenhang mit dem Ausdruck „Tercharar“
von den Juden und der jiddischen Sprache gehört. Das Jiddische ist – zur
Erinnerung – ein mit hebräischen und slawischen Sprachelementen vermischter
deutscher Dialekt, der zunächst zu drei Vierteln aus mittelalterlichem Deutsch
und einem Viertel hebräischen Ausdrücken bestand; durch den Kontakt mit dem
slawischen Sprachraum kamen weitere Ausdrücke hinzu. Die etwa ab dem 17.
Jahrhundert in Richtung Westen zurückwandernden Juden brachten dieses Jiddisch
mit. Verwandt mit dem Jiddischen ist auch die Gaunersprache, das so genannte
Rotwelsch, die Geheimsprache der Vagabunden, des fahrenden Volkes und
Vertretern unehrlicher Berufe. Der Wortschatz setzt sich meist aus deutschen
Mundartwörtern und verhüllenden Ausdrücken zusammen und hat einen starken
jiddischen Einschlag. Er entstand durch den Kontakt der Diebesgauner mit
jüdischen Händlern – zwei Außenseitergruppen. Im gemeinsamen Gespräch konnte
der Gauner eine Menge Ausdrücke aus dem Judendeutsch lernen und in seinen
Geheimjargon einbauen. So schafften es zahlreiche Begriffe auch nach Tirol und
in den Vinschgau. Wenn wir Wörter wie „muffn“
(stinken), „piiber“ (kalt) oder eben „schiinagglan“ (hart arbeiten) verwenden, benutzen wir diese
alte Geheimsprache. Letzteres geht zurück auf das jiddische „Schinagole“, die Schubkarre, und wer „schiinaggelte“
leistete ursprünglich eine Zwangsarbeit für die Obrigkeit. Heute ist es
vielleicht nicht mehr eine feudale Obrigkeit, die uns hart arbeiten lässt, „geschiinaggelt“ wird trotzdem.
schimpflan
Es
kommt vor, dass etwas anders aussieht, als es tatsächlich ist – und dies gilt
nicht nur für Lasagne, die Pferdefleisch enthält. Auch im sprachlichen Bereich
gibt es (auf den ersten Blick) solche Fälle. Ein Beispiel ist das Vinschger
Wort „schimpflan“. Würde man nicht wissen, dass damit
„spielen“ gemeint ist, eine für Kinder sehr positive Tätigkeit, man würde eher
in Richtung „tadeln“ oder „maßregeln“ tippen. In der Tat hat „schimph“ im Mittelhochdeutschen die Bedeutung „Spiel“ und
„Scherz“. So heißt es „ein vrouwe sol
niht vrevelîch schimphen“, also „eine Frau soll nicht anzüglich scherzen“.
Woher aber kommt die negative Bedeutung? Das mhd. „schimph“
wurde nicht nur für Kurzweil allgemein verwendet, sondern auch für das ritterliche
Kampfspiel. Bei dieser Art von Zeitvertreib wird aus Spaß schnell Ernst. Siegt
hierbei ein Teilnehmer über den anderen, so kann daraus leicht Spott oder
Verhöhnung werden. Und dann wird geschimpft! Schöner ist es, wenn Kinder heute,
so es endlich wärmer wird, vor dem Haus im Freien spielen können und es heißt
„Dr Hias isch affn Weïg oi
schimpflan.“
Schlångate Assn
Südtirols
Vorzeigeliterat Norbert C. Kaser schreibt in seinem
Stadtstich zu Glurns, dass „maenner
kartenspielen & geheimzeichen
auf ein S malen“. Mit dem in den Text eingefügten S-Zeichen spielt er auf ein
im Vinschgau gern gespieltes Kartenspiel an: „Schlångate
Assn“. Die Spielkarten – das Gebetbuch des Teufels,
wie man sie früher nannte – sind im 14. Jahrhundert entstanden, wo genau, darüber
ist man sich noch nicht einig. Immerhin haben sie sich (weil immer wieder
verboten) rasend schnell verbreitet und sind heute genau so beliebt wie vor
Jahrhunderten. Gespielt wird im Vinschgau meist mit den Salzburger Karten, die
in Salzburg selbst weder dem Namen noch der Gestaltung nach bekannt sind.
Manchmal lässt jedoch die Bandbreite der Zeitvertreibe zu wünschen übrig, da
viele Kartenspiele vom Watten „geschlagen“ werden. Der Name scheint hier
Programm zu sein, denn „Watten“ kommt vom italienischen „battere“
für „schlagen“. Nach wie vor beliebt sind im Vinschgau aber „Schiabate Ass“ und „Såckn“. Am
schönsten ist es immer, wenn es heißt: „Måchmr an Schiaber?“ oder „Täamer Schuubern?“
Schlänggltoog
Manchmal
hat man das Gefühl, dass sich heute Gedenk- und Aktionstage, unabhängig davon,
ob sie nationaler oder internationaler Natur sind, so häufen, dass überhaupt
keine Zeit bleibt, um genügend Luft dazwischen zu bekommen:
Holocaust-Gedenktag, Europäischer Datenschutztag, Tag zum Schutz des Lebens
oder Welttag der Feuchtgebiete, um nur einige der letzten Zeit zu nennen. Doch
früher war es auch nicht viel anders. Wenn wir uns in eine Zeit
zurückversetzen, in der das bäuerliche und das religiöse Leben noch eine
dominante(re) Rolle in unserem Land gespielt haben,
so fällt es nicht schwer, einige Feiertage hintereinander zu reihen. Die
vergangene Woche zum Beispiel konnte mit gleich drei erwähnenswerten Tagen
aufwarten: Am 2. Februar war Mariä Lichtmess, am 3. wird der Hl. Blasius,
Patron gegen Halsweh, gefeiert und am 5. Februar schließlich der Festtag der
Hl. Agatha begangen. Lichtmess war gleichzeitig der Schlänggltoog
– der Beginn des bäuerlichen Arbeitsjahres, der Tag, an dem Knechte und Mägde schlänggln, also ihre Stelle wechselten, sollte es einen
Grund dafür geben. Hatten sie schon lange nicht mehr geschlängglt,
war das natürlich für beide Seiten ein gutes Zeichen. Im Vinschgau war man mit
der Frage, ob überhaupt geschlängglt wird, schon sehr
früh dran. In Kastelbell wird sie im Dezember
gestellt, im oberen Vinschgau sogar schon zwischen Gålli
(16. Oktober) und Martini (11. November). Den Abschluss der Schlängglzeit
bildet die erwähnte Hl. Agatha. Die größten Feierlichkeiten dazu fanden in Karthaus in Schnals statt. Ein
Vorschlag am Ende: Bei so vielen Feiertagen fehlt nur noch ein Tag des Vintschger Sprachgutes.
Schnårfer
Haben
Sie schon einmal versucht, einen x-beliebigen Begriff – zum Beispiel der
erstbeste, der Ihnen einfällt, oder auch eine besondere Kombination – in die
Suchmaschine Google einzugeben, um zu erfahren, was es im Internet dazu gibt?
(Oder vielleicht sogar den eigenen Namen, um zu sehen, ob man „digital“
existiert?) Vor Jahren war es ein beliebter Zeitvertreib von Computernutzern,
in einer Art Wettstreit untereinander Suchbegriffe ausfindig zu machen, die nur
einen einzigen Treffer ergeben, da diese Aufgabe viel schwieriger ist, als sie
für den Laien scheint. Selbst sinnlose Zeichenketten wie „asdfghkl“
ergeben immerhin 31.600 Treffer (Wer es nicht glaubt, möge es selbst
nachprüfen.) Wenn Sie allerdings die beiden Begriffe „Schnårfer“
und „Rucksack“ eingeben, dann erhalten Sie genau ein einziges Ergebnis. Nicht
mehr und nicht weniger. Eine reifliche Leistung. Mit der Variante „Schnarfer“, die man u. a. in Taufers, Kastelbell
und Nauders verwendet, sind es immerhin grandiose
sieben Einträge. Der Mundartforscher Josef Schatz kennzeichnet „Schnårfer“ als typisch für den Vinschgau, wenn er auch im
einen oder anderen Ort außerhalb verstanden und gebraucht wird (z. B. in Ridnaun). Die Herkunft des Ausdrucks ist leicht erklärt.
Das althochdeutsche Wort „snerfan“ kann mit
„zusammenziehen“, „schnüren“ oder auch „runzelig machen“ übersetzt werden und
gab so dem Vinschger Rucksack seinen Namen. Da dieser Beitrag auch auf der
Internet-Seite des „Vinschger“ erscheint, wird es nicht lange dauern und die
beiden obengenannten Ausdrücke ergeben zwei Treffer – eine kleine Form der
dialektalen Aufklärungsarbeit.
Schpuuzmiil
1.200
Stunden hat der Marteller Leander Regensburger
zusammen mit seinem Großvater Norbert Holzknecht an der Restaurierung einer
alten Schpuuzmiil in Gand gearbeitet. Es handelt sich
hierbei um eine Stockmühle, wie sie bereits vor Jahrtausenden erfunden worden
ist. Das Wasserrad steht nicht wie bei den meisten Mühlen senkrecht, sondern
befindet sich in einer waagrechten Position. So ist eine Mühle diesen Typs
nicht von der Wassermenge auf den Schaufeln abhängig, sondern wird allein durch
den Druck, das das Wasser ausübt, angetrieben. Die Schpuuzmiil in Gand wurde in einem steilen Gelände angelegt,
um den natürlichen Wasserdruck auszunutzen und ist seit mindestens 1888
urkundlich belegt. Um eine solche Mühle allein könnte man eine kleine
Dialektwörtersammlung zusammenstellen: Zunächst muss man das Miilwåsser über ein Miilråar inkäarn, beim eigentlichen Mahlvorgang gibt es dann die
Gosse (den Aufschüttkasten; wahrscheinlich von mhd. goz,
giezen), darunter befinden sich Laafer
und Leeger (die Mühlsteine), im Paitlkåschtn
wird das Mehl von der Grisch (die Kleie; vgl. ital. crusca) getrennt; im Grischrittler
kann die Kleie weiter bearbeitet werden, um so die feinere von der
grobkörnigeren zu trennen – um nur einige Wortbeispiele zu nennen. Das Mehl
wird dann zum Brotbacken verwendet. Bleibt nur zu hoffen, dass das Brot rougla oder zuugwåach ist und nicht
knotthert wird.
Schtaar → Mutt
Schtåaßerloch
Die
Zahl 40 spielt in der christlichen Religion eine bedeutende Rolle. So dauerte
die Sintflut im Alten Testament insgesamt vierzig Tage, auch der Aufenthalt des
Mose auf dem Berg Sinai, vierzig Jahre lang wanderten
die Hebräer durch die Wüste, Jesus fastete vierzig Tage lang und die Zeit
zwischen Ostern und Christi Himmelfahrt beträgt ebenfalls vierzig Tage.
Allerdings umfasst noch eine weitere Zeitspanne vierzig Tage – wenn dies auch
weniger bekannt ist: der Zeitraum zwischen Weihnachten und Mariä Lichtmess
(oder auch Darstellung des Herrn), ein Fest, das am 2. Februar gefeiert wird.
Der Volksmund spricht vom wachsenden Tag, der um Lichtmess schon so lang ist,
dass für den Bauern das Arbeitsjahr beginnen konnte. So ist verständlich, dass
Mariä Lichtmess einer der größten Lostage im Jahr war und sich dazu
verschiedene Bräuche und Gewohnheiten entwickelten. Man begrüßte zum Beispiel
die Sonne, indem man Milch oder Rahm in das Fenster stellte; in Naturns und Umgebung gab es das so genannte Schtåaßen, also das Ausbessern und Herrichten des schadhaft
gewordenen Holzes im Weinberg. Es war Aufgabe der Frauen, die Reben
festzubinden, wozu sie dünne, biegsame Weidenruten verwendeten. Den Zeitpunkt
für den Beginn dieser Arbeiten legte die Sonne selbst fest. Wenn ihre Strahlen
nach der Wintersonnenwende zum ersten Mal wieder das Schtåaßerloch
trafen, endete der winterliche Müßiggang.
Schtaudnvintschger
Dass
alte Rivalitäten zwischen den einzelnen Dörfern des Vinschgaus
dazu geführt haben, auch in den Übernamen der
Bewohner wertend aufzutreten, haben wir schon vor Monaten gehört – man denke
nur an die Gluurnzer Schtattlscheißer
(vgl. „Ausdrücke“ Nr. 28). Eine traditionelle und weithin bekannte Einteilung
treibt hingegen einen Keil in den Vinschgau und macht aus den Talbewohnern
entweder Edlvintschger oder Schtaudnvintschger.
Doch wo genau dieser Keil nun anzusetzen ist, darüber ist man sich im Detail
nicht immer einig und hängt auch ein wenig davon ab, wen man fragt und wo
dieser selbst wohnt. Mathias Insam zum Beispiel
schreibt in einem Beitrag, in dem er sich damit beschäftigt, dass für manchen
die Schtaudnvintschger von der Töll
bis auf die Laaser Höhen zu finden sind – womit er
die Einwohner von Schlanders eindeutig zu den Vinschgern unter den Erlenbüschen und Weinstauden rechnet;
ganz im Gegensatz zu den Gluurnzer Edlvintschgern auf den saftigen Weiden und Matten. Diese
Zweiteilung ist zweifelsohne historisch bedingt und speist sich u. a. aus
kulturellen Unterschieden. Die Edlvintschger
bedienten sich länger des Rätoromanischen und bevorzugten im Vergleich zum
unteren Vinschgau den rätoromanischen Steinbau als Haustyp. Sie zeichnen sich
zudem durch einen etwas kleineren Menschenschlag aus, gelten aber als die edlen
und damit die echten Vinschger – mit ihren guten und auch weniger guten
Tugenden, zu denen Schlauheit, aber auch Hinterhältigkeit zählt. All das kann
man natürlich von einem Schtaudnvintschger nicht
verlangen.
schtuppen
Man hört die beiden Ausdrücke heute
mittlerweile kaum mehr: „harwen“ und „stuppen“. Beide
beziehen sich auf Stoffe, die aus Flachs- oder Hanffasern hergestellt werden.
Der große Unterschied liegt allerdings in der Qualität. Das „harwene Tuach“ war ein fein
gewobenes Leinentuch; das Garn dazu wurde normalerweise nur von erfahrenen
Frauen, die schon lange im Spinnhandwerk geübt waren, versponnen. Man hat es
vor allem zur Hemdenherstellung verwendet. Das „Stuppene“
hingegen war von minderer Güte und bestand aus den kurzen, gröberen und
verwirrten Faserstücken. Werg, so der
hochsprachliche Name, wird noch heute als Dicht- und Füllstoff genutzt.
Interessant ist, dass sich der Ausdruck „stuppen“ sprachgeschichtlich bis ins
Mittel- und Althochdeutsche zurückverfolgen lässt und sogar im Lateinischen
und Altgriechischen zu finden ist. Schon im alten Griechenland bezeichnete „styppeion“ den groben Hanf und der Begriff „styppax“, der Wergverkäufer, wurde auch als Spottnamen
gebraucht. So ist verständlich, dass „harwen“ und
„stuppen“ nicht nur textile Eigenschaften bezeichnen, sondern im übertragenen
Sinn auch für „gut“ und „schlecht“ oder zumindest für „das Bessere“ und „das
Schlechtere“ verwendet wurden. „Liaber a stuppas Håamat as a harwane Årbat“:
Selbst der schönste Arbeitsplatz ersetzt nicht die Heimat.
Stecher
In
dieser Folge behandeln wir nicht Vinschger Begriffe und Wendungen, sondern
einen bekannten Familiennamen. Familiennamen lassen sich in der Regel auf
Berufsbezeichnungen, Flurnamen, die Herkunftsorte der ersten Träger, auf
Charaktereigenschaften, das Aussehen oder auf die Vornamen von Vater oder
Mutter zurückführen. Der Vinschgau ist im letzten Fall recht ergiebig. Manchmal
ist der Ursprung augenscheinlich, wie bei den Vornamen Bernhard und Daniel, die
unverändert als Familiennamen übernommen wurden. Bei anderen hat sich die
äußere Form im Laufe der Zeit mehr oder weniger gewandelt. Der Familienname Blaas geht auf den Namen Blasius zurück, Köllemann auf den heute kaum mehr vergebenen Namen Koloman,
Fliri bezieht sich auf den in Matsch verehrten Hl. Florinus, Plagg auf den Namen Placidus und Tschenett auf
Johannes. P. Thomas Wieser vom Kloster Marienberg hat 1917 vermutet, dass auch
der Name Stecher aus einem Vornamen entstanden sei, in diesem Fall Eustachius. Damit dürfte er aber falsch liegen. Der Urahne
aller Stecher war wahrscheinlich ein Fechter, Saustecher oder Kastrierer.
sui
Für
die allermeisten von uns ist der Dialekt die eigentliche Muttersprache und für
diese gelten einige Besonderheiten: Wir erlernen sie in den ersten Lebensjahren
von der Mutter bzw. den Eltern ganz automatisch ohne formalen Unterricht und so
prägt sie sich mit ihren Lauten, Strukturen und Wörtern tief in uns ein. Es ist
aus diesem Grund auch ganz normal, wenn ein Dialektsprecher nicht weiß, warum
er ein bestimmtes Wort verwendet, warum gerade in diesem Kontext oder was es
ursprünglich bedeutete. Hier kommt die Sprachkolumne „Ausdrücke aus dem
Vinschgau“ ins Spiel. der Vinschger hatte bereits mit der Serie „Eindrücke aus
dem Vinschgau“ das Tal mit all seinen Facetten optisch in Szene gesetzt, die
„Ausdrücke“ sollten einen Blick auf das Sprachliche werfen. Beileibe keine
einfache Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass die Distanz zwischen dem Reschenpass und der Töll nicht
nur in Kilometern eine beachtliche ist und die Grenze bei Eyrs
eher dem Ohr als dem Auge zugänglich ist.
Die
Themen, mit denen sich die Kolumne beschäftigt hat, sind vielfältig, aber es
gibt drei Bereiche, die in besonderer Weise berücksichtigt wurden, weil sie
sehr schön belegen, worüber sich der Dialektsprecher sehr häufig äußert und was
im Mittelpunkt des menschlichen Interesses steht: Einerseits der gesamte
Bereich rund um lokales Brauchtum und Traditionen (z. B. Säalamårkt,
Klaubauf, Eïslheïbm, Schaibaschloogsunnta, Faschaangält,
Guldanåmp, Larmschtång),
dann der kulinarische Bereich, also Essen und Trinken (z. B. Schnäamilch, Piaschtturt, Tirggariibl, Fochaz, Gåffrawåsser, Paalapiiragräascht,
girschtas Prout, Fätzener, Luttwärga, Pazlung, Zullawåsser) und
schließlich durften auch die existentiellen Themen Gesundheit, Krankheit und
Tod nicht zu kurz kommen (z. B. Fraithouf, Ziigngleggl, Maarn, Gäawåadl, Laitpitten, Särber, Wurmäntnschmålz).
Einige
der vorgestellten dialektalen Ausdrücke haben sich auch mit aktuellen Anlässen
verbinden lassen. Weihnachten, Aschermittwoch, die Karwoche oder Ostern waren
beliebte Gelegenheiten, doch auch Profaneres fand den Weg in die Beiträge,
sommerliche Wärme, Glühwein, die Apfelernte, für den heutigen Beitrag wäre es
mit Sicherheit Allerheiligen oder ein kleiner Seitenhieb auf die vor kurzem
abgehaltenen Landtagswahlen gewesen.
Jeder
vierte Beitrag war einem erfundenen Vinschger Ehepaar und seiner Familie
gewidmet, dem Håns-Sepp und seiner Frau Mena. „Die
Vinschger Saga“ hatte einen besonderen Auftrag. Während in den regulären
Beiträgen dialektale Ausdrücke in Bedeutung und Herkunft vorgestellt, erklärt
und immer wieder auch in Verbindung mit aktuellen Themen präsentiert wurden,
waren die kleinen Geschichten aus Håns-Sepps und
Menas Leben dazu da, um Wörter und Wendungen ohne theoretisches Drumherum zu
verwenden. So wurden beispielsweise zahlreiche Pflanzen- und Tiernamen genauso
eingeflochten wie die Übernamen für Bewohner
bestimmter Dörfer (wie zum Beispiel die „Oubergrauner
Panklhucker“), Auszählreime oder die ganze verbale
Bandbreite, die dem Dialektsprecher zur Verfügung steht, wenn jemand langsam
arbeitet, stinkt, betrunken ist oder schläft. Vor allem in den ersten Folgen
wurde hier ein recht rustikales Bild des Vinschgers
gezeigt. Da wurde geschimpft, gejammert und gemault und es fielen auch schon
die einen oder anderen gröberen Ausdrücke. Aber so ist das nun einmal. Der
Dialekt kommt von Herzen – und da rumpelt es schon ab und zu.
Vor
einigen Wochen wurden die Leserinnen und Leser dazu aufgefordert, jene
Vinschger Dialektwörter einzusenden, die ihnen besonders gut gefallen. Ich
versuche nun drei von den eingesandten Ausdrücken in eine Geschichte zu
verpacken und führe Håns-Sepp und Mena ein letztes
Mal auf die Bühne: Neu war die Situation nicht. Håns-Sepp
und Mena lagen sich in den Haaren. Nach fast vierzig Ehejahren haben sich beide
immer noch nicht an den Dickschädel des anderen gewöhnt. Mena hatte beim
Konsortium einen „Gschpualamälter“ gekauft, da ihr
der alte verbraucht schien. Håns-Sepp sah das
vollkommen anders. Nur weil man dem Kübel ansah, dass er häufig verwendet
wurde, war das noch lange kein Grund, einen neuen zu kaufen. Aber auch Menas
Hinweis, er wäre wirklich „wolfla“ gewesen, konnte
seinen für Außenstehende oft künstlich wirkenden Zorn nicht mindern. Mena hätte
in all den gemeinsamen Jahren verstehen müssen, dass es nichts nützt, mit Håns-Sepp zu reden, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt
hatte. Er war schon ganz überdreht. Am besten, so dachte sie, solle er „fa Teipe iber
an Ruan auirännen“. Was
soll man dazu sagen? So sain sui hålt!
4
Jahre, 100 Beiträge, 421 dialektale Ausdrücke und Wendungen, über 20.000 Wörter
– das ist die rein numerische Bilanz der Dialektkolumne „Ausdrücke aus dem
Vinschgau“, die mit diesem 100. Beitrag abgeschlossen wird. Wenn die kurzen
Texte das eine oder andere Schmunzeln angeregt haben oder dadurch einige
Dialektwörter wieder etwas stärker ins Bewusstsein gerückt worden sind, dann
stimmt die Bilanz insgesamt. Allen Lesern ein „Dånkschäan“!
T
Tercharar
Was
haben die Vinschger mit den Juden zu tun? Sprache ist etwas Lebendiges und sich
stetig Wandelndes und lebt nicht nur über den fortgesetzten Gebrauch durch eine
Gemeinschaft, sondern auch durch den Austausch und Kontakt mit anderen. Die
Herkunft eines sprachlichen Ausdrucks erzählt somit immer auch eine Geschichte.
In den vergangenen fünfundzwanzig Folgen der „Ausdrücke ...“ konnten Begriffe
nicht nur auf alt- oder mittelhochdeutsche Wörter, sondern auch auf lateinische
und griechische Vokabeln zurückgeführt werden; sprachwissenschaftlich nichts
Außergewöhnliches. Eine höchst interessante Verbindung verdanken wir jedoch den
Karrnern, von denen wir in Zukunft noch öfters hören
werden. Die Karrner, denen Luis Stefan Stecher ein
literarisches Denkmal gesetzt hat, bildeten sich vermutlich im 18. Jahrhundert
als eigene Gruppe im Obervinschgau heraus. Sie zogen
mit Karren durch das Land und lebten auf der Straße. Nach dem Ersten Weltkrieg
zersplitterten sich die Karrnersippen allerdings und
nahmen so rapide ab. Als fahrendes Volk war auch ihre Sprache vielfältigen
Einflüssen ausgesetzt. So gibt es beispielsweise im Jiddischen, einer Sprache,
die hauptsächlich von Juden in Osteuropa gesprochen wurde, das Wort „derech“; es bedeutet „Weg“. Daraus sind – über die Karrner – die Vinschger Wörter „Terchar“
und „Tercharar“ entstanden. Letzteres bezeichnet
damit Landstreicher und im übertragenen Sinn auch Menschen, die ständig „umt Weeg sain“.
Tirggariibl
Nudeln
gelten als typisch italienisch, obwohl man diese in China seit 4.000 Jahren
kennt, und Pommes Frites, die man gerne amerikanisch sein lässt, haben ihren
Ursprung in Belgien. Von den Haflingerpferden, die eigentlich Schludernser sind, ganz zu schweigen. Das sind nur drei von
vielen Beispielen, bei denen man über die Herkunft diskutieren könnte.
Verwendet man im Vinschgau den Ausdruck „Tirgg“ für
Mais in einer von zahlreichen Verbindungen wie „Tirggkolbm“,
„Tirggameel“, „Tirggakourn“
oder „Tirggamuas“, dann verweist man damit
geographisch auf die Türkei. Man könnte so vermuten, dass dies auch der
Ursprung des beliebten Getreides sei. Damit liegt man aber genauso falsch wie
bei den frittierten Kartoffeln. Der Mais kam zwar über die Türkei nach
Österreich und damit nach Tirol, die eigentliche Heimat ist allerdings Mexiko.
Eine besondere Bedeutung besitzt der Mais im oberen Vinschgau mit dem (aus dem
alemannischen Raum stammenden) „Tirggariibl“, in
Wasser aufgekochtes und in Butterschmalz geröstetes Maismehl. Nudeln, Pommes
und Riibl –
das ist Globalisierung auf allen Ebenen.
V
vikanz
Was
haben das Papstamt, die SEL und das Südtiroler Schulwesen gemeinsam? Zunächst
war und ist es bis jetzt für alle drei ein sehr wechselvolles Jahr. Papst
Benedikt XVI. hat überraschenderweise im Februar seinen Rücktritt erklärt. Es
war das erste Mal seit über 700 Jahren, dass sich ein Nachfolger Petri zu
diesem Schritt entschlossen hat. Die Zeit zwischen seiner Abdankung und der
Wahl des neuen Papstes nennt sich Sedisvakanz. Die seit langem
skandalgeschüttelte Landesenergiegesellschaft SEL kam zu einem neuen
Generaldirektor und verlor diesen wenige Monate danach ebenso skandalbegleitet.
Der Posten war nun wieder vakant. Und viele Schulen haben heuer erste negative
und positive Erfahrungen mit der 5-Tage-Woche gemacht. Immerhin gab es einen
zusätzlichen schulfreien Tag für die Schüler. Übrigens (um endlich zum Dialekt
zu kommen): Für „schulfrei“ gibt es im oberen Vinschgau einen schönen alten
Ausdruck: „vikanz“. Er hat – wie Vakanz und vakant –
seine Wurzeln im lateinischen „vacuus“ mit der
Bedeutung „leer“. So leer wie manch kontraproduktives Geschwätz um eine 36.
Schulwoche.
W
Wachapfinzta
Worauf
sich der Ausdruck „Pfinzta“ für Donnerstag
zurückführen lässt, wurde bereits vor zwei Jahren an dieser Stelle erklärt
(Folge 3). „Wachapfinzta“ bezeichnet nun einen ganz
speziellen Donnerstag, jenen der Karwoche, also den Gründonnerstag. Allgemein
wird zwar angenommen, dass das „grün“ nichts mit der Farbe zu tun habe, sondern
aus dem althochdeutschen „grinan“ für „weinend den
Mund verziehen“ entstanden sei, aber das ist mittlerweile nur einer von
mehreren Erklärungsversuchen. Das „grün“ könnte auch daher herrühren, dass es
seit mindestens dem 14. Jahrhundert belegt ist, dass man an jenem Tag nur
grünes Gemüse und grüne Kräuter gegessen hat. Wie auch immer. Am Wachapfinzta kann man in Mals, wie
an jedem Donnerstag der Fastenzeit, den so genannten „Sinker“
bewundern. Es handelt sich dabei um eine Holzstatue, die den knienden Heiland
am Ölberg darstellt. Das Besondere daran ist, dass die Statue ein einfaches
Getriebe besitzt, wodurch sich der Kopf Jesu bewegen kann. Die Gläubigen beten
davor den Schmerzhaften Rosenkranz und beim ersten Gsatzl
neigt sich das Haupt Jesu tief hinunter und die große Glocke läutet – insgesamt
drei Mal wie am Ölberg. Dass die Malser stolz auf
ihren Sinker waren und die Tauferer
sich deshalb ärgerten, führte schließlich dazu, dass sich letztere einen
ähnlichen Jesus bauen ließen und verkündeten „Iaz brauchmr enkern Hearrn nimmer.“ Vorösterliche Dorfrivalität!
Wialschar
Das
Gerücht hält sich hartnäckig. Die Inuit, die früher wenig differenzierend als
Eskimos bezeichnet wurden, sollen eine Vielzahl von Vokabeln für Schnee
besitzen. Diese Behauptung ist weit verbreitet und auch in wissenschaftlichen
und natürlich populärwissenschaftlichen Texten begegnet man diesem Klischee
immer wieder. Wer in schneereicher Umgebung lebt, so die Begründung, wird ihn
auch sprachlich unterscheiden – über 200 Wörter sollen es sein, wie zahlreiche
Quellen behaupten. Lange hatte dies niemand kritisch überprüft, doch heute weiß
man, dass es sich um einen unhaltbaren Irrtum handelt. Trotzdem scheint es
durchaus naheliegend zu sein, dass die Umgebung die Sprache der Menschen
beeinflusst. Wenn ein Vinschger Bauer vor einem Maulwurfhügel steht und sich
über die Wühltätigkeit des insektenfressenden Säugers ärgert, bezeichnet er den
Urheber des Übels als Wialschar, Wialscheer,
Wialschger oder Wialtscher.
Im Grunde nichts Besonderes. Was aber, wenn es an einem Ort gar keine Maulwürfe
gäbe? Dann dürfte auch kein Wort dafür vorhanden sein. Das scheint immerhin
plausibel. Wer will schon etwas bezeichnen, das in seinem Umfeld nicht
existiert. So heißt es zum Beispiel, dass die Tauferer
im Münstertal keinen Begriff für Maulwurf haben, weil es dort gar keine gäbe.
Die Biester würden es nicht durch den Gålfawålt
schaffen. Eine interessante Hypothese.
Wurmäntnschmålz
Warum
heißt das Murmeltier Murmeltier, wenn es gar nicht
murmelt, sondern schrill pfeift? Eine simple Frage, deren Beantwortung recht
gewunden ist. Am Anfang der dazu gehörigen Erklärung steht eine Bergmaus. Im lateinischen Akkusativ heißt diese „murem montis“ und daraus hat sich
durch romanische Vermittlung im Althochdeutschen das Wort „murmenti“
gebildet. Schon sind wir nicht mehr ganz so weit entfernt vom Vinschger
Ausdruck für die putzigen Alpentiere. Die Bedeutung von „murmenti“
hat im 14. Jahrhundert natürlich kaum mehr jemand verstanden und so wurde der
Begriff volksetymologisch nach dem Zeitwort „murmeln“ umgestaltet; übrigens
eine nicht seltene Praxis. So wird aus Nichtverstandenem Verständliches und aus
einer Bergmaus ein Murmeltier – oder wie man im
Vinschgau sagt – eine Wurmänt. Auch im alemannischen
Sprachraum kennt man einen ähnlichen Ausdruck, dort spricht man von Purmänta. In beiden Fällen wurde das erste „m“ in „murmenti“ durch einen anderen Laut ersetzt, da man zwei
gleiche vermeiden wollte. Dadurch werden wichtige Laute für den Hörer besser
wahrnehmbar. Unabhängig davon gibt es noch weitere schöne Vinschger Ausdrücke:
Das Fell eines Murmeltiers ist unter der Bezeichnung „Wurmäntnpålg“
bekannt und gegen Gelenks- und Muskelbeschwerden helfen Wurmäntneïl
und Wurmäntnschmålz. Die Jagd auf Murmeltiere wird
bei uns mit angeblich von ihnen angerichteten Schäden auf Hochalmen
gerechtfertigt. Das stimmt aber nicht. So murmelt man.
Z Ziigngleggl
„St.
Josef, bitt um eine glückliche Sterbestunde!“ Dies ist ein Teil der Inschrift
auf dem 80 kg schweren Ziigngleggl (auch Zinggleggl) in der Kirche zum Hl. Luzius
in Tiss bei Goldrain. Sein
Festtag wurde erst kürzlich am 2. Dezember gefeiert. Dass wir ihn außer in Goldrain auch noch in der Pfarrkirche von Laatsch und in der Kapelle in der Fürstenburg in Burgeis, also gleich drei Mal hier finden, hängt damit
zusammen, dass der Vinschgau bis 1816 kirchenrechtlich zum Bistum Chur gehörte
und St. Luzi, wie er auch genannt wird, der dortige Bistumspatron ist. Das Ziigngleggl ist, wie heute noch weithin bekannt, die
Sterbeglocke und wurde früher bereits geläutet, wenn der Sterbende in den
letzten Zügen lag – daher auch der Name. Das Sterbeglöcklein
in Tiss stammt übrigens aus dem Jahre 1925 und wurde,
wie zwei weitere Glocken, von Giovanni Colbacchini
aus Trient gegossen. Er hatte der Legierung Blei beigemischt, wodurch es unerwünschterweise zu Tonschwankungen kommt. Geschwindelt
wurde eben immer. Nochmals zurück zum Hl. Luzius. Er
heilt unter anderem Kranke von ihrem Fieber und befreit Besessene von ihrem
Wahn. Angesichts der nicht enden wollenden Schuldenkrise in Europa und den oft
kaum nachvollziehbaren Rettungsaktionen scheint es nicht unsinnig zu sein,
diesen Heiligen anzurufen. Möge der Euro nicht in den letzten Zügen liegen!
Zoch
Spätmittelalter.
Ländliche Gegend. Historische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Anzahl der
Geburten im Dezember wesentlich geringer ist als während des restlichen Jahres.
Der Grund dafür lag darin, dass neun Monate zuvor die Fastenzeit begangen wurde
und man (zumindest auf dem Land) während dieser enthaltsamer als sonst gelebt
hatte. Verlassen wir aber das Mittelalter. Unsinniger Donnerstag. Prad am Stilfserjoch. Das dort
traditionell abgehaltene Zusslrennen gehört
sicherlich zu den wichtigsten und interessantesten Faschingsbräuchen im
Vinschgau. Die männlichen Prader verkleiden sich
dabei als so genannte Zussl, sind dazu von Kopf bis
Fuß in weiße Kleider gehüllt, mit Maschen und Blumen geschmückt und tragen eine
mitunter schwere Kuhschelle oder Glocke. Im Laufe des Umzuges tauchen noch
viele andere Figuren auf, die wir hier gar nicht aufzählen wollen, und am Ende
schließlich ein Paar mit den Namen „Zoch und Pfott“. Die beiden Bezeichnungen werden auch abseits der
Fasnacht für „Mann“ und „Frau“ verwendet und haben zumindest im Vinschgau nicht
automatisch einen negativen Beigeschmack. Im östlichen Teil des Landes zum
Beispiel ist ein Zoch generell ein derber, grober
Mensch, ein bengelhafter Bursche. Woher die beiden
Begriffe sprachgeschichtlich stammen, darüber ist sich die einschlägige
Literatur nicht einig. Manche vermuten, dass „Zoch“
auf das slawische „socha“ für „Knüppel, Pfahl“
zurückgeht, das mittelhochdeutsche „zoche“ bedeutet „Knüttel,
Prügel“, womit natürlich ein bestimmtes männliches Körperteil gemeint war.
Ähnliches gilt auch für die „Pfott“. Womit sich der
Kreis zum eingangs erwähnten Beispiel schließt. Aber lassen wir solche
Anzüglichkeiten – die Fastenzeit beginnt.
Zullawåsser
Selbst
in unserer fortschrittlichen Welt, in der fast jedes Phänomen erklärt werden
kann, gedeiht in engen Seitennischen immer noch das Geheimnisvolle und
Unglaubliche. Moderne Sagen, wie man sie oft nennt, sind schon längst zum
Allgemeingut geworden. Legt man zum Beispiel ein Stück Fleisch in Cola, so wird
immer wieder berichtet, löse sich dieses vollständig auf – ein Beweis, wie
schädlich das Gebräu sei. Tatsache ist, dass sich mit der Zeit (wie ohnehin)
das Aussehen verändert, mehr aber auch nicht. Ein anderes Gerücht lautet, Spuma, das in Italien weit verbreitete Getränk, werde aus
faulen Äpfeln hergestellt. Die Wirklichkeit ist kaum gesünder: Wasser, Zucker,
Farb- und Aromastoffe, aber keine Äpfel. Um einiges unappetitlicher ist aber
die Herkunft von Speisewürze (vulgo Maggi): Der Ausdruck „Zullawåsser“
legt nahe, sie werde aus zermalmten und ausgepressten Zulln,
also Maikäfern, hergestellt. Das Wort „Zulln“ lässt
sich auf das Welschtiroler „zorla“
zurückführen. Ob aber die ähnliche Farbe und der Geruch von käfernzerknabberten
Buchen Beweis genug für die Maggi-Herkunft sind?
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