Josef Tschenett und der Morbus cyclometricus

oder

Die Eggentaler Quadratur des Kreises

Chi dichiara errata la mia Dimostrazione lo Comprovi.“ Diese Aufforderung ergeht an den Betrachter einer komplexen ma­the­matischen Skizze (Abb. 1), die der Zimmermann und Tisch­ler­meister Josef Tschenett im Jahre 1932 entworfen hat. Über der geometrischen Konstruktion im Zentrum des gut 30 x 30 cm großen Blattes gibt ein Titel Auskunft über den Sinn des Un­ternehmens: „Quadratura del Cerchio. Il π costruito geometricamente e risolto con riga e compasso“. Was zunächst wie ein Kandidat für ein Kuriositätenkabinett wirkt, entpuppt sich bei näherer Be­trach­tung als erwähnenswertes historisches Kleinod.

 

Josef Tschenett (Abb. 2) wurde am 11. Februar 1869 in Stilfs als ehelicher Sohn des Michael Tschenett und seiner Ehefrau Ka­rolina Ratt geboren und am selben Tag getauft. [1] Sein Vater war ebenfalls Zimmermann und wurde in seinem Heimatdorf Stilfs nach seinem Vater Christian „Stina Michl“ genannt. [2] Michaels Sohn Josef trat beruflich in die väterlichen Fußstapfen, führte aber – im Unterschied zu diesem – ein sehr un­ste­tes und nicht immer problemfreies Leben außerhalb von Stilfs. Diese Unruhe lässt sich an Hand der Geburten seiner neun Kinder nachvollziehen. Im No­vem­ber 1894 kam er arbeitsbedingt nach Welsch­nofen und wurde Zimmer­mann­polier beim Bau des Karersee Hotels. Dort lernte er seine spätere Frau Maria Plank (Abb. 3) kennen. [3] Sie wird als kleine, stille Frau beschrieben, die so un­auffällig war wie ihr Mann buntschillernd. [4] Maria stammte aus Welschnofen und war die Tochter des k. k. Forstwarts Johann Plank und dessen Frau Ur­su­la Kaufmann. Beim Hotelbau war sie „Wirthschäfterin im Verpflegsmagazin“ und wohnte, wie auch Josef, auf der Bau­stelle, in den Kirchenbüchern „Karersee Barracke“ genannt. Es dauerte nicht lange und die beiden beschlossen zu heiraten. Die Hochzeit fand am 29. Oktober 1895 im Heimat­ort der Braut statt. Eile schien ge­boten gewesen zu sein, da man sich entschieden hatte, eine Dispens vom da­mals noch üblichen dritten Aufgebot einzuholen, was eine Woche vor der Hoch­zeit auch gewährt wurde. [5] Der Grund für die Eile ist ein nahe liegender und im Welschnofner Taufbuch zu finden: Das erste Kind, die Tochter Anna Zita, kam – nicht ganz sechs Monate nach der Hochzeit – am 27. April 1896 zur Welt. Bereits bei der Geburt schien es Probleme ge­ge­ben zu haben, da man eine Tau­fe im Mutterleib („in utero matris“) vorgenommen hatte. [6] Das junge Paar musste mit einem ersten Schicksalsschlag fertig werden; Anna Zita starb zwei Tage nach der Geburt. [7] Im selben Jahr wurde das Grandhotel Karersee eingeweiht. [8]

 

Das nächste Kind wird ebenfalls in Welschnofen zur Welt kommen und es wird für lange Zeit der letzte Tschenett-Spross sein, der hier geboren wird. Es ist in diesem Fall ein Sohn, er wird Alois heißen und im Taufregister am 28. Mai 1897 ein­ge­tragen werden. Auch ihm ist kein allzu langes Leben vergönnt, immerhin erreicht er aber das Erwachsenenalter. Bereits im Jahr nach Alois’ Geburt beginnt die eineinhalb Jahrzehnte dauernde Odyssee der Familie Tschenett durch die westliche Landeshälfte. Josef, das nächste Kind, kommt 1898 in Meran auf die Welt; als Wohnort wird die Hallergasse angegeben. [9] Der Säugling stirbt im Alter von drei Wochen an Meningitis. [10] Ein Jahr darauf wird wieder ein Kind geboren, für das man ebenfalls den Namen Josef ausgesucht hat. Geändert hatte sich jedoch die Unterkunft der Familie; dieses Mal wird die Speckbacherstraße vermerkt. Der Taufeintrag enthält übrigens einen nachträglich hinzugefügten Stempel: „Il controscritto cognome di TSCHENETT è stato corretto in quello di GENETTI.“ [11] Anton wird dann 1901 in Untermais getauft [12], da Josef Tschenett von der Speckbacherstraße in die Harmoniestraße umgezogen ist; und schließlich kommen vier weitere Kinder auf die Welt: Franz 1903 in Na­turns [13], Johann 1905 in Kastelbell [14], Maria Anna 1907 in Algund [15] und Rosa 1910 wiederum in Welschnofen [16]. 1916 wird ein Schicksalsjahr der Familie: Im Jänner stirbt die Letztgeborene Rosa im Alter von nicht einmal sechs Jahren an ei­ner Lungenentzündung, ein Dreivierteljahr später wird Alois als Standschütze im k. k. Bataillon Welschnofen am 28. September 1916 am Sella-Pass schwer verwundet [17 und stirbt zwei Tage später im Feldspital in Vigo „pro patria“. [18] Zum damaligen Zeitpunkt war die Familie Tschenett bereits in das Eggental übersiedelt.

 

Josef Tschenett war von einer Idee besessen, die ihn über viele Jahre beschäftigen wird: Er wollte die Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal bewerkstelligen. Obwohl der deutsche Mathematiker Ferdinand von Lindemann bereits 1882 bewiesen hatte, dass die Quadratur des Kreises aufgrund der Transzendenz der Zahl π unmöglich ist [19], hielt Tschenett an seinem Vorhaben fest. Dass Tschenett davon wusste, lässt sich aus einer Notiz aus sei­nem Nachlass folgern, die auf Lindemann, das Jahr 1882 und den Beweis der Transzendenz Bezug nimmt. [20] Schon im 18. Jahrhundert grassierte die Quadrierungssucht so stark, dass man vom „Morbus cyclometricus“ sprach und sich die Königliche Akademie der Wissenschaften in Paris 1775 zu dem Beschluss durchrang, in Zu­kunft keine Lösungsversuche für die Quadratur des Kreises mehr zu überprüfen. [21] Dass Tschenett hiervon Kenntnis hatte, scheint auszuschließen zu sein, er hätte sich auch kaum von seinem Unternehmen abbringen lassen. Die Gründe für seinen Einsatz dürften wohl fi­nan­zieller Natur gewesen sein. Tschenett war im ganzen Eg­gental bekannt, vor allem bei den Gastwirten, und nicht selten, so wurde erzählt, lauerten alle Wirte von Welschnofen bis nach Kampenn vor der Tür, um ihn abzufangen und die Schulden bei ihm einzutrei­ben. Seine chronische Geldnot war all­seits bekannt. Er hatte sich jedoch immer wieder erfolgreich aus den Schwierigkeiten geredet, indem er mit seinen Blät­tern voller Berechnungen, Tabellen und Skizzen auf ein Preisgeld von mehreren Millionen Dollar verwies, das von einer ame­rikanischen Institution auf die Lösung des Problems ausgesetzt worden war. Dieses hät­te er ohnehin schon so gut wie in der Tasche, betonte er bei jeder Gelegenheit. [22] So verwundert es nicht, dass sich in seinem Nachlass ein undatierter Ausschnitt aus einer italienischen Zeitung befindet, der von Tsche­netts Leistungen unter dem Titel „Quadratura del cerchio risolta?“ berichtet: „No­ti­zie strabilianti giun­­go­no da Nova Ponente. Pare che cer­to Giuseppe Tsche­net [!], da Nova Po­nen­te, dopo un lungo quan­to te­na­ce la­vo­ro di ben 12 anni, sia ri­u­scito a risolvere la qua­dratura del cer­chio. [...] Lo Tsche­nett ha espresso la sicurezza di aver vinto il favo­lo­so pre­mio – sei o sette milioni di dollariche un arcimilio­nario americano avrebbe destinato al genio risolutore dellannoso problema.“ [23]

 

1930 hatte Tschenett seine Er­kennt­nisse mit Hilfe einer Skizze dargelegt, die er zwei Jahre später überarbeitet hat. Das Ergebnis dieser Über­arbeitung ist die schon eingangs erwähnte Abbildung 1. In der Zwi­schen­zeit aber war Tschenett von einem weiteren Ge­danken ein­ge­nom­men. Er wollte seine Leistung vom Amt für geistiges Ei­gentum im Ministerium der Korporationen recht­lich anerkennen und schützen lassen. Das Königliche Ge­set­zesdekret Nr. 1950 vom 7. November 1925 sah diese Mög­lich­keit vor. Dort heißt es in Artikel 1: „Sono protette dal presente decreto, qua­lun­que ne sia il merito e la destinazione, tutte le opere dellingegno, scienti­fiche, letterarie, artistiche e didattiche. [...] Sono considerati opere scien­ti­fiche anche i progetti di lavori d’ ingegneria, quando cos­ti­tu­is­ca­no so­lu­zio­ni originali di problemi tecnici.“ [24] Am 15. April 1931 ver­fasst er des­halb ein erstes dies­be­zügliches Ansuchen, im Jahr da­rauf ein wei­teres. In der amtlichen Antwort vom 11. Ok­tober 1932 drückt man allerdings Verwunderung darüber aus, dass Tsche­nett seine Unterlagen ein zweites Mal vor­legt: „Non si com­prende, pertanto, a quale scopo il detto sig­nore ripro­duca, oggi, di nuovo il suo elabo­ra­to. Che se – ciò che sembra impossibileegli abbia inteso variare parte del suo la­vo­ro, si fa presente che in tal caso occor­re­reb­be che il sig. Tschenett eseguisse nuovo, regolare deposito del suo ulteriore studio per­sonalmente presso questo Ufficio, e nei mo­di e con le forme seguiti pel precedente deposito.“ [25] Aus der Emp­fangs­­be­­stä­ti­gung (Abb. 4) ist ersichtlich, welche Unterlagen Tsche­nett eingereicht hatte. Es sind dies: a) die geomet­ri­sche Skizze, in der die Quadratur des Kreises ausgeführt wurde, b) eine trigonometrische Tabelle und c) eine Konstruktionsbeschreibung der Quadratur. [26] Die Anlagen der zweiten Eingabe wurden ihm zurück­­geschickt. [27] Für das Ansuchen hatte er eine italienische Übersetzung seines verschriftlichten Beweises an­­gefertigt. Notizzettel belegen, dass er nach italienischen Entsprechungen für Begriffe wie „Seilkurven-Me­­thode“ oder „Ei­linien­konstruktion“ gesucht hatte. [28] Josef Tschenett war zutiefst von seiner Entdeckung überzeugt, so schrieb er in seinem Begleittext zur geometrischen Skizze zum Beispiel, „dass jeder Ma­­thematiker von Beruf, als auch jeder Autodidakt einwandfrei zugeben muss, dass die Parole: ein Problem das nicht gelöst werden kann, hinfällig geworden [...] und das mathematisch Ungenaue [...] in das mathematisch Genaue verwandelt worden [ist].“ [29]

 

Zur damaligen Zeit war der aus der Provinz Arezzo stammende Ten. Gianfederigo Morfini zunächst Com­­­missario Prefettizio und schließlich Podestà von Deutschnofen. Er war vom 1. Februar 1931 bis 11. September 1933 im Amt und zugleich auch politischer Sekretär des lokalen Ablegers der Faschistischen Partei. [30] Fehlende Loyalität gegenüber dem Regime tolerierte Morfini nicht. Schon in seinem ersten Amtsjahr beantragte er, dem Obkircher-Bauern die Genehmigung zur Zimmerver­mietung zu entziehen, da die­ser in seinem Stiegenhaus ein Bild von Kaiser Franz Jo­seph I. hängen hatte. Morfini war überzeugter Fa­schist und stets bemüht, seinen Amtsbereich besonders er­folgreich und strahlend erscheinen zu lassen. So warb er eifrig um neue Mitglieder für die Partei und rühmte sich damit, 23 Buben für die Organisation „Ba­lilla“ und 24 Mädchen für die „Piccole Italiane“ ge­wonnen zu haben. In seine Amtszeit fallen die gut ins­zenierten Einweihungsfeiern des Telegraphen beim Postamt, des Sitzes des Dopolavoro und des Fascio Giovanile; an den Schulen gab es für die Kinder erstmals Geschenke der Befana Fascista; zudem waren Investitionen in die touristische Entwicklung geplant. [31] So muss sich wohl auch Tschenetts Wunsch nach Anerkennung seiner Konstruktion für Morfini als eine Möglichkeit präsentiert haben, mit Leistungen aus seinem Amtsbereich zu punkten.

 

Die Anerkennung seines Erfolges durch das Ministerium war ihm nicht vergönnt. Immerhin berichtete die Tages­zei­tung „Dolomiten“ am 31. März 1934 unter dem Titel „Wis­sen­schaftliche Glanzleistung eines Oberetschers: Gra­phi­sche Kreis-Rektifikation nach Jo­sef Tsche­nnet [!]“ (Abb. 5) von seiner Leistung: „Nach den Feiertagen wird in der Vo­gel­wei­der-Buchhandlung in der Museum­stra­ße in Bolzano ein aus wenigen Blättern bestehendes Werkchen zur Ein­sichtnahme und zum Ankauf für In­te­res­senten aufliegen, das insoferne bei den Ma­the­matikern Auf­sehen er­re­gen wird, als es eine prak­tisch brauchbare graphische Rek­ti­fi­ka­tions­me­thode von noch nie erreichter Annäherung bringt, die ein be­schei­de­ner Landsmann, ein völliger Außenseiter der Wis­senschaft, der Eggen­ta­ler Tisch­ler­meister Josef Tschenett in achtjähriger Arbeit er­son­nen hat. Die Sache ist schon manchen wis­sen­schaft­lichen Instituten vor­ge­le­gen, hat das Staunen dieser und vieler Universitätsprofessoren ge­­fun­­den und ist zum Teil auch vielen Ingenieuren und Professoren un­se­res Lan­des bekannt. Wir brin­gen sie nun der breiten Öf­fent­lich­keit zur Kennt­nis mit einem kurzem Auf­­satz, der aus der Feder des in al­len Fach­­kreisen hoch­geschätzten Bozner In­ge­nieurs und Ma­thematikers Dr. [Oth­mar] Nol­­din stammt.“ [32] Dieser Beitrag ist insofern interessant, als hier von einer „praktisch brauchbare[n] graphische[n] Rektifikationsmethode von noch nie erreichter Annäherung“ gesprochen wird – der Ausdruck „Quadratur“ wird tunlichst vermieden.

 

Zur Terminologie sei Folgendes anzumerken: Unter der „Quadratur des Kreises“ versteht man die Aufgabe, für einen gegebenen Kreis ein Quadrat gleichen Flächeninhalts zu zeichnen. Als Hilfsmittel dürfen hierfür lediglich ein Zirkel und ein unmarkiertes Lineal verwendet werden; als wei­tere Einschränkung gilt eine endliche Zahl von Konstruktionszwischenschritten. Bei der „Rektifizierung des Krei­ses“ hingegen wird aus einem gegebenen Kreis – unter denselben Voraussetzungen wie bei einer Quadratur – eine Strecke konstruiert. Die Probleme sind zwar mathematisch äquivalent, aber in ihrer konkreten Durchführung doch unterschiedliche Aufgaben. [33]

 

Der Bozner Ingenieur und Mathematiker Dr. Othmar Noldin, der den Artikel für die Zeitung verfasst hat, beschreibt in seinen weiteren Ausführungen, dass bereits im ägyptischen Papyrus Rhind aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend Näherungen für die Quadratur beschrieben wurden, vor allem aber Archimedes, François Viète, Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton wichtige Beiträge zu diesem mathematischen Problem geleistet hatten. Die damals aktuellen graphischen Methoden wären dem exakten Wert von Pi auf sieben Hunderttausendstel nahe gekommen, „Herr Tschenett [hätte aber] eine erfreuliche Pionierarbeit geleistet, denn seine graphische Konstruktion kommt dem wahren Pi bis auf zirka sieben Millionstel nahe, die Annäherung ist also rund zehnmal so gut und die Konstruktion selbst nicht viel umständlicher als die bisher übliche! Der Rekord ist geschlagen und wird nicht überboten werden; die Annäherung ist eine so gute, daß die Differenz bei normalen Zeichenbrett-Di­men­sio­nen nur mit Hilfe eines optischen Meßverfahrens (Interferenzmessung) nachgewiesen werden könnte!“ [34] Dass Tschenett nicht nur als mathematisch interessiert und talentiert, sondern darüber hinaus auch als be­geisterter Fantast beschrieben wer­den kann, zeigen die abschließenden Zeilen des Artikels. Noldin weist zunächst darauf hin, dass Tschenetts gesamter Gedankengang der Beweisführung fehlerlos und von diesem selbst ausgearbeitet worden sei, er aber darüber hinaus die Ansicht vertrete, „daß die von ihm konstruktiv gefundene Größe 3.1416 die wirklich Zahl Pi darstellt und [...] bemüht [ist], diese Behauptung durch Hinweis auf eine Reihe von allerdings ganz merkwürdigen geometrischen und mathematischen Koinzidenzen zu stützen; reiches Figurenwerk und üppige Zahlenmystik zeichnen diesen III. Teil der Abhandlung aus“. [35] Tschenett war, bei aller mathematischen Brillanz, davon überzeugt, dass die Kreiszahl Pi lediglich vier Stellen hinter dem Komma besitzen würde. Dies deckt sich mit den Erinnerungen von Personen, die ihn noch persönlich gekannt haben, und die erzählen, dass dem Tschenett „das Pi aufgegangen“ sei.

 

Mindestens zwei Mal tauchte Josef Tschenett noch in der Presse auf: 1984 in dem Dolomiten-Beitrag „In dieser Woche vor fünfzig Jahren“, in dem Tschenetts Arbeit, auf zwanzig schmale Zeilen zusammengefasst, immerhin als Kuriosität gewürdigt wurde [36] und 1993 im Gemeindeblatt von Deutschnofen in der Ru­b­rik „Leute, die nicht vergessen sind“: „Josef Tschenett war Zimmermann und im Rechnen fast ein Genie. Er kann­te einen Studienrat und erhielt so den Auftrag, Teile der Pläne zum Bau des Karerseehotels auszuarbeiten. Dieses Ho­tel war vor 100 Jahren eines der bekanntesten in Europa und hat illustre Gäste aus dem Hochadel und der Welt der Politik beherbergt. Die Kaiserin Sissy hielt sich in Karersee auf und auch der englische Premierminister Winston Churchill.“ [37]

 

Ein weiteres Werk, das im Zusammenhang mit seinen Quadrierungsversuchen stand, sei zu erwähnen. Tschenett war Urheber eines fünfunddreißigseitigen Heftes, das in mindestens zwei Auflagen erschienen war, 1904 in Meran und 1920 in Bozen. Die „Kubik- und Preisberechnungstabellen für Rund- und Schnittholzmaterialien: berechnet nach Meter und teils nach österreichischem Fußmaß in Kronenwährung“ [38] gestatteten Berechungen, wie viele Bretter aus einem Baumstamm geschnitten werden können. Die Tabellen ermöglichten dies für verschieden dicke Bretter und verschieden dicke Baumstämme von Fichten, Föhren, Tannen, Lärchen und Kiefern. [39] Auf einer Postkarte, die Tschenett am 10. März 1932 an „Giacomo Delantonio Ditta Frattelli Feltrinelli“ schickte und sich heute in seinem Nachlass befindet, ist Folgendes zu lesen: „Sehr Wehrter Jakob!! Verzeihen Sie gütigst, dass ich über der Bewussten Sache noch nicht bei Ihnen erschienen bin, Ursache ist, dass die Finanzen noch nicht flüssig sind. Hoffe jedoch, Anfangs nächster Woche hinaus kommen zu können um alles zu ordnen und das Problem den Druck übergeben. Hochachtend Ihr J. Tschenett.“ [40]

 

Sowohl Josef Tschenett als auch der international bekannte Schriftsteller Prof. Herbert Rosendorfer sind Nachkommen des schon genannten „Stina Michl“, ersterer als Sohn, letzterer als Urenkel. Im März 2007 setzte Rosendorfer seinem Großonkel Josef Tschenett ein literarisches Denkmal. Der Text „Vetter Sepp und die Quadratur des Kreises“ ist in der Zeitschrift „Literatur in Bayern“ erschienen [41] und wurde im Ok­to­ber desselben Jahres in Mals bei einer Lesung vorgestellt. [42] Am Ende des Textes beschreibt Rosendorfer die letzten Jahre von Josef Tsche­nett. Durch das Optionsabkommen zwischen dem faschistischen Ita­lien und dem natio­nalsozialistischen Deutschland musste sich Tsche­nett wie alle Südtiroler entscheiden. Wie der Großteil der Bevölkerung süd­lich des Bren­ners optierte er für Deutschland und musste daher das Eg­gen­tal ver­las­sen. [43] Seine Frau Maria war im Mai 1939 in Welschnofen an ei­nem Schlag­anfall verstorben. [44] Tschenett war zu diesem Zeitpunkt be­reits krank, seine Schwester Anna, Rosendorfers Großmutter, ver­mu­te­te, dass die Rechnerei seinen Geist zerstört hatte, die Ärzte dia­gno­sti­zier­ten Ge­hirn­erweichung. So kam er in die Pflegeanstalt in Hall, ins „Irren­haus“, wie es damals unverblümt hieß. Anfang der Vierzigerjahre besuchte Anna Tschenett mit ihrem Mann ihren Bruder Sepp. Wenige Tage spä­ter sei er plötzlich verstorben. Rosendorfer schreibt: „Ich habe einen Verdacht ...“ [45] Dieser Verdacht erhält neue Nahrung durch die Anfang 2011 auf dem Gelände des Landeskrankenhauses in Hall entdeckten Grä­ber aus der NS-Zeit. [46] Der Historiker Horst Schreiber weist zwar darauf hin, dass in Hall eine Tötungsanstalt geplant aber nie umgesetzt worden war. Allerdings vermutet man schon seit einigen Jahren, dass man hier während der Zeit des Nationalsozialismus Hunderte von Menschen habe verhungern lassen. [47] Dass sich darunter auch Südtiroler befinden, gelte als sicher. [48] Nach Auskunft des am Forschungsprojekt beteiligten Historikers Mag. Oliver Seifert ist der Anstaltsfriedhof – nach heutigen Kenntnissen – erst seit November 1942 belegt, es sei demnach nicht zu erwarten, dass Tschenett hier begraben wurde. [49]

 

Josef Tschenett war am 29. April 1942 in Hall verstorben [50], auf seinem erst 1945 gedruckten Sterbebild ist als Ort jedoch Innsbruck zu lesen (Abb. 6). [51] Über die Gründe dafür kann man spekulieren.

 

Eine der zahlreichen Anekdoten um Josef Tschenett zeigt den Menschen und talentierten Praktiker hinter dem „Homo cyclometricus“, dem besessenen Kreisquadrierer. Die Episode hatte sich schon zu Beginn sei­­ner Karriere zugetragen, da die Kölner Hütte, um die es dabei geht, in den Jahren 1898/99 gebaut [52] und 1900 eingeweiht [53] wurde. Er hatte den Auftrag, dieses hölzerne Schutzhaus in den Dolomiten zu planen. Aus welchen Gründen auch immer, kam Tschenett seiner Arbeit nicht nach und vertröstete den Deutsch-Österreichischen Alpenverein von Mal zu Mal. Als ihn einer der Verantwortlichen zur Rede stellen wollte, traf dieser Tschenett gerade beim Kartenspielen in einem Gasthaus an und stellte ihm ein Ultimatum: Entweder er würde sofort den Plan liefern, oder man sähe sich gezwungen, einen anderen mit dem Entwurf zu beauftragen. Josef Tschenett warf da­rauf­hin die Karten hin, wischte alles vom Tisch, holte seinen flachen Zimmermannsbleistift hervor und skiz­zierte mit freier Hand und in exaktem Maßstab den Grundriss des Schutzhauses auf den Tisch. Die Tischplatte wurde abgeschraubt, an Ort und Stelle transportiert und die Schutzhütte danach gebaut. [54]

 

Quellen

Amplatz, Maria: Leute, die nicht vergessen sind – 9. Folge. In: Gemeindeblatt Deutschnofen 6/1993. Hrsg. von Hans Simmerle. Seite 10.

Delahaye, Jean-Paul. Pi. Birkhäuser Verlag. Basel 1999.

Deutsch-Österreichischer Alpenverein (Hrsg.): Kölner Hütte und deren Umgebung. o. O. 1900.

Disposizioni sul diritto di autore. Regio Decreto Legge vom 7. November 1925, Nr. 1950. Veröffentlicht in der Gazzetta Ufficiale Nr. 270 vom 20. November 1925.

Gräber von 220 NS-Opfern entdeckt. In: Dolomiten 4. Jänner 2011a, Seite 11.

In dieser Woche vor fünfzig Jahren. Allerlei Lehrreiches und Vergnügliches. Wir blättern in den „Dolomiten“ von 1934. In: Dolomiten 28. März 1984, Seite 5.

Kircher, Ignaz: Ein Jahrhundert Karersee Hotel. Entwicklung des Fremdenverkehrs im Karerseegebiet seit der Eröffnung des Hotels. Bozen 1996.

Lesung mit Herbert Rosendorfer. In: Der Vinschger 38/2007. Hrsg. von der Vinschger Medien GmbH. Seite 28.

Menschen verhungern lassen. In: Dolomiten 4. Jänner 2011b, Seite 11.

Rifugio A. Fronza alle Coronelle – Kölner Hütte. http://www.rifugiofronza.com/de/storia.htm (Stand: 31. Jänner 2011)

Rosendorfer, Herbert: Vetter Sepp und die Quadratur des Kreises. In: Literatur in Bayern Nr. 87 (März 2007). Hrsg. von Dietz-Rüdiger Moser, Waldemar Fromm und Carolin Raffensbauer. Seite 34-37.

Seifert, Oliver: Josef Tschenett. Persönliche E-Mail vom 28. März 2011.

Stocker-Bassi, Rosa Maria: Deutschnofner Höfegeschichten VII – Deutschnofen 1900-1950. Herausgegeben von der Raiffeisenkasse Deutschnofen-Aldein. Bozen 2008.

Tauf-, Heirats- und Sterberegister von Algund, Eggen, Meran/St. Nikolaus, Naturns, Stilfs, Tschars, Untermais und Welschnofen

Tschenett, Josef: Kubik- und Preisberechnungstabellen für Rund- und Schnittholzmaterialien: berechnet nach Meter und teils nach österreichischem Fußmaß in Kronenwährung. Jandl. Meran 1904 / Tyrolia. Bozen 1920.

Verfrachtet und verschwunden. In: Dolomiten 25. Februar 2011, Seite 15.

von Lindemann, Ferdinand: Über die Zahl π. In: Mathematische Annalen 20 (1882). Seite 213-225.

Wissenschaftliche Glanzleistung eines Oberetschers. Graphische Kreis-Rektifikation nach Jo­sef Tschennet. In: Dolomiten 31. März 1934. Seite 3f.

 

Nachlass

Nr. 1       Sterbebild des Alois Tschenett (1897-1916), Sohn von Josef Tschenett

Nr. 2       Sterbebild des Michael Tschenett (1838-1917), Vater von Josef Tschenett

Nr. 3       „Quadratur des Kreises für R=1“, Mai 1930 (Text, handgeschrieben, dt.)

Nr. 4       „Quadratur des Kreises für R=1“, Mai 1930 (Text, maschinengeschrieben, dt.)

Nr. 5       Notizzettel mit ins Italienische übersetzte mathematische Fachbegriffe

Nr. 6       Quadratura del cerchio per il Radio R=1“, Mai 1930 (Text, maschinengeschrieben, ital., 4x)

Nr. 7       Prova precisa della soluzione matematica e geometrica“ (Text, handgeschrieben, ital.)

Nr. 8       Quadratura del cerchio“, 1930/1932 (Konstruktion, ital.)

Nr. 9       Postkarte von Josef Tschenett an Jakob Delantonio (F.lli Feltrinelli) vom 10. März 1932

Nr. 10      Ansuchen an die „Regia Prefettura di Bolzano“ vom 14. September 1932 (Prot. Nr. 2932)

Nr. 11      Antwort der „Regia Prefettura di Bolzano“ vom 11. Oktober 1932 (Prot. Nr. 12970)

Nr. 12      Zusatz zu Prot. Nr. 12970 vom 15. Oktober 1932 (Rückgabe der Beilagen)

Nr. 13      Zusatz zu Prot. Nr. 12970 vom 22. Oktober 1932 (Rückgabe der Beilagen)

Nr. 14      „La quadratura del cerchio risolta?“ (Zeitungsartikel, ital.)

 

Abbildungen

Abb. 1    Skizze 1930/1032

Abb. 2    Josef Tschenett

Abb. 3    Maria Plank

Abb. 4    Dolomiten 31. März 1934, Seite 3

Abb. 5    Ansuchen vom 14. September 1932 (Prot. 2932)

Abb. 6  Sterbebild Josef Tschenett und Maria Plank 

 

Fußnoten

[1] Taufmatrikel Stilfs 1795-1877, fol. 241

[2] Rosendorfer (2007), Seite 34

[3] Heiratsmatrikel Welschnofen 1828-1898, fol. 57

[4] Rosendorfer (2007), Seite 35

[5] Heiratsmatrikel Welschnofen 1828-1898, fol. 57

[6] Taufmatrikel Welschnofen 1871-1929, fol. 44

[7] Sterbematrikel Welschnofen 1871-1983, fol. 48

[8] Kircher (1996), Seite 23

[9] Taufmatrikel Meran/St. Nikolaus 1898-1905, fol. 32/147

[10] Sterbematrikel Meran/St. Nikolaus 1878-1906, fol. 350/149

[11] Taufmatrikel Meran/St. Nikolaus 1898-1905, fol. 67/143

[12] Taufmatrikel Untermais 1890-1905, fol. 189/67

[13] Taufmatrikel Naturns 1896-1921, fol. 35/3

[14] Taufmatrikel Tschars 1898-1912, fol. 34

[15] Taufmatrikel Algund 1903-1915, fol. 46/32

[16] Taufmatrikel Welschnofen 1871-1929, fol. 93

[17] Sterbebild Alois Tschenett 1916

[18] Taufmatrikel Welschnofen 1871-1929, fol. 46

[19] von Lindemann (1882), Seite 213ff.

[20] Nachlass Josef Tschenett Nr. 7

[21] Delahaye, Seite 49

[22] Rosendorfer (2007), Seite 36

[23] Nachlass Josef Tschenett Nr. 14

[24] Regio Decreto Legge, 7. November 1925, Nr. 1950

[25] Nachlass Josef Tschenett Nr. 11

[26] Nachlass Josef Tschenett Nr. 10

[27] Nachlass Josef Tschenett Nr. 11

[28] Nachlass Josef Tschenett Nr. 5

[29] Nachlass Josef Tschenett Nr. 4

[30] Stocker-Bassi (2008), Seite 56

[31] Stocker-Bassi (2008), Seite 57

[32] Dolomiten 31. März 1934, Seite 3

[33] Delahaye, Seite 68f.

[34] Dolomiten 31. März 1934, Seite 3

[35] Dolomiten 31. März 1934, Seite 4

[36] Dolomiten 28. März 1984, Seite 5

[37] Amplatz (1993), Seite 3

[38] Tschenett (1904/1920)

[39] Rosendorfer (2007), Seite 35f.

[40] Nachlass Josef Tschenett Nr. 9

[41] Rosendorfer (2007), Seite 34ff.

[42] Der Vinschger 38/2007, Seite 28

[43] Rosendorfer (2007), Seite 37

[44] Sterbematrikel Welschnofen 1871-1983, fol. 181

[45] Rosendorfer (2007), Seite 37

[46] Dolomiten 4. Jänner 2011, Seite 11a

[47] Dolomiten 4. Jänner 2011, Seite 11b

[48] Dolomiten 25. Februar 2011, Seite 15

[49] Seifert (2011)

[50] Taufmatrikel Stilfs 1795-1877, fol. 241

[51] Sterbebild Maria Tschenett (1866-1939) und Josef Tschenett (1869-1942)

[52] http://www.rifugiofronza.com/de/storia.htm

[53] Deutsch-Österreichischer Alpenverein (1900), Seite 3

[54] Rosendorfer (2007), Seite 37

 

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